Twitter ist das neue Fernsehen, Datenjournalismus ist der neue Punk, und Reinhard Mirmsecker ist der neue Udo Foht. Des weiteren auf der Agenda: der 20. Jahrestag des Arte-Sendestarts.
Die Lage könnte besser sein in Facebookistan. Aber gerät Zuckerbergs Reich nach den Kalamitäten rund um den Börsengang (siehe Altpapier) jetzt wirklich ins Wanken? Das wird wohl auch davon abhängen, ob sich die Tatsache, dass man sich als Facebook-Kleinanleger das womöglich erhoffte Eigenheim im Grünen, das Hans-Jürgen Jakobs im am Donnerstag hier bereits zitierten SZ-Kommentar ins Spiel brachte, nicht wird herbeizocken können, auf die Beliebtheit des sozialen Netzwerks auswirkt, ob sich also Nutzer in nennenswerten Umfang verabschieden - und sich Steve Coll als Vorbild nehmen, der im New Yorker begründet, warum er Facebookistan der Rücken kehrt.
Heute berichten Johannes Boie und Moritz Koch auf der Seite Drei der SZ darüber, „wie die Börse Facebook und Mark Zuckerberg entzaubert“:
„War der Hype um Facebook womöglich orchestriert, damit Großinvestoren auf Kosten von Kleinanlegern Kasse machen konnten? Wenn die Banker an der Wall Street eins können, dann doch: rechnen. Auch den Analysten bei Morgan Stanley war nicht entgangen, dass sich Facebooks Geschäfte eingetrübt hatten. Als das Unternehmen mitten in der Roadshow erneut mit schlechten Nachrichten aufwartete, dieses Mal über das dürftige Geschäftsmodell für das mobile Internet, senkten sie ihre Prognosen. Sofort griffen die Banker zum Hörer und informierten einige Großinvestoren. Kleinanleger erfuhren nichts von den Zweifeln der Wall Street. Darum geht es bei den Klagen, die nun in New York und Kalifornien eingereicht werden.“
Patrick Bernau kommentiert im FAZ-Wirtschaftsteil:
„Die neuen Aktionäre haben schon nach wenigen Tagen einen enormen Verlust zu Buche stehen. Im Gegenzug haben Facebook und seine alten Aktionäre Gewinn gemacht. Verwerflich ist das nicht. Aber wer so gierig ist wie Facebook, der muss sich seiner Sache sehr sicher sein. Denn wenn etwas schiefgeht, steht man schnell dumm da. (...) Dabei ist das Unternehmen sowieso schon umstritten. Mit diesem Börsengang aber hat es seine besten Freunde vergrätzt.“
Der erwähnte und bereits vergrätzte Steve Coll bezieht sich bei seiner Kritik an Facebook unter anderem auf ein Buch der Journalistin Rebecca MacKinnon (aka @rmack). Coll schreibt:
„Zuckerberg’s business model requires the trust and loyalty of his users so that he can make money from their participation, yet he must simultaneously stretch that trust by driving the site to maximize profits, including by selling users’ personal information. The I.P.O. last week will exacerbate this tension: Facebook’s huge valuation now puts pressure on the company’s strategists to increase its revenue-per-user. That means more ads, more data mining, and more creative thinking about new ways to commercialize the personal, cultural, political, and even revolutionary activity of users.“
Die FTD versucht uns mit der Überschrift „Klagen wie 1933“ erst einmal ein bisschen in die Irre zu führen, klärt dann aber auf, dass aus jenem Jahr ein
„Paragraf (stammt), der für enttäuschte Investoren nun ein Hebel ist, Facebook und die Emissionsbanken für den verpatzten Börsenstart des sozialen Netzwerks juristisch zu belangen“.
Dass das „Börsengang-Debakel“ von Zuckerbergs Laden möglicherweise auch irgendwas mit „technischen Pannen“ bzw. überforderten Computersystemen zu tun haben könnte, erfahren wir bei boerse.ard.de. Deshalb
„liebäugelt Facebook angeblich mit einem Wechsel von der Nasdaq zur traditionsreichen New York Stock Exchange (NYSE). Denn die NYSE besitzt im Gegensatz zur computergestützten Nasdaq noch einen Parketthandel, bei dem Menschen tätig sind“.
Kriegen es Menschen also doch eventuell besser hin als die von ihnen instruierten Computer? Und da wir gerade bei existenziellen Fragen sind: Facebook wird langfristig, wenn nicht sogar bis in alle Ewigkeit vielleicht noch davon profitieren, dass es den Service deadsoci.al gibt. wallstreetjournal.de erklärt, was es damit auf sich hat:
„Mit DeadSocial können Nutzer Tweets und Facebook-Nachrichten schreiben, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nach dem Tod veröffentlicht werden, zum Beispiel an einem Jahrestag, oder nach einem festgelegten Zeitraum. Man kann auch persönliche Nachrichten damit verschicken.“
Vor allem die Facebook-Timeline habe den Firmengründers James Norris inspiriert, schreibt das deutsche WSJ weiter und liefert dazu ein hübsches Zitat von ihm:
„Sie beginnt, wenn man geboren ist, und zählt dann auf, was man in seinem Leben getan hat. Warum sollte sie nach dem Tod aufhören? (...) Warum sollte der Tod diese Unterhaltung unterbrechen?"
So isses, Digger! Es kann doch nicht sein, dass der Tod Unterhaltungen unterbricht! Also echt jetzt! Ob dieses Zitat allzu eilig übersetzt wurde und Norris in Nuancen etwas anderes gesagt hat, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis.
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Kommen wir zu den klassischen Medienthemen: Der frühere ARD-Programmdirektor Dietrich Schwarzkopf nimmt den 20. Jahrestag des Sendestarts von Arte zum Anlass, für die Funkkorrespondenz ausführlich auf die frühen Tage des Senders zurückzublicken. Und einen Ratschlag für die Zukunft hat er auch parat:
„Der europäische Kulturkanal Arte könnte vielleicht überlegen, ob es ihm gut anstünde, wenn er der Ort ist, an dem man die europäischen Filmklassiker findet, die anderswo rar geworden sind, weil bei den Privaten Hollywood-Gedränge herrscht und die Öffentlich-Rechtlichen viel Platz für deutsche Spielproduktionen brauchen.“
Dietrich Leder würdigt derweil im Medientagebuch des Freitag (Seite 14), dass Arte zu Pfingsten das innovative Kulturmagazin „Freistil - Was die Waschmaschine träumt“ revitalisiert. Das lief vor 20 Jahren im WDR - „als sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Kampf gegen die private Konkurrenz noch nicht auf Eigenplagiate beschränkte“.
Dass dies heute ganz anders ist, könnte auch eine Entwicklung befördert haben, über die sich Joachim Huber im Tagesspiegel unter der Überschrift „Jeden Tag der gleiche Brei“ Gedanken macht:
„Die sich über Jahre stetig steigernde Sehdauer hat im ersten Quartal 2012 einen Knick erfahren. Durchschnittlich vier Stunden und zwei Minuten verbrachten die Deutschen vor dem Apparat, das sind laut Media Control sechs Minuten weniger als in den ersten drei Monaten 2011.“
Betroffen ist unter anderem Marktführer RTL, dessen Markanteil „bezogen auf die ersten fünf Monate 2012 auf 13,1 Prozent gesunken“ ist, also um ein Prozent gegenüber dem vergangenen Gesamtjahreswert. Dass „die Schwächephase“ von RTL, das „sich in den Stillstand seiner Entwicklung und in den Überdruss einer wachsenden Zahl an Zuschauern hinein gesendet“ habe, in der „Diskretionszone stattfindet“, ist aber eine kühne und zudem wenig elegant formulierte These, schließlich hat die direkte Tagesspiegel-Konkurrenz schon ausführlich berichtet (siehe Altpapierkorb neulich)
Warum generell weniger TV geguckt wird, weiß Meike Laaff (taz): Weil man „dank Twitter nicht mehr fernsehen muss“ und „gemütlich in der Crowd-Couch sitzen“ kann. Zum Beispiel bei Bayern gegen Chelsea neulich:
„Grandiose Miniaturen lesen wie ‚FC #Bayern: 20 Ecken = 0 Tore, #Chelsea: 1 Ecke = 1 Tor, Robben und Neuer(!) schießen Elfmeter, der Rest hat Schiss‘ reichen mir Fußballbanausin als Teilhabe am TV-Ereignis völlig, wenn ich dafür einen Abend Lebenszeit bekomme. Genauso einen Tag später bei #Jauch: Ein paar mitgetwitterte Kernzitate von Buchpromogast Sarrazin und Kanzlerkandidaturpromogast Steinbrück gelesen, geschmunzelt über zynische Tweets à la ‚Deutschland schaltet sich ab‘ oder ‚Nach Schmidt und #Sarrazin: Das nächste Mal diskutiert Peer #Steinbrück exklusiv mit Gott‘ - und dann wieder der Pizza und dem Blick über die Dächer Berlins zugewendet. Ich habe meinen TV-Konsum in die Crowd ausgelagert. Oder besser: Ich lasse fernsehen - und zwar meine Twitter-Timeline. (...) Funktioniert erstaunlich gut.
ALTPAPIERKORB
+++ Gibt es eigentlich Bedarf nach neuen Slogans nach dem Muster „x ist das neue y“? Sie wissen schon, „Leise ist das neue laut“ und so. Der Guardian hat diesbezüglich was ausgeheckt: „Datenjournalismus ist der neue Punk“, verkündet er. Gepriesen wird dieser vermeintlich neue Punk im Übrigen auch im Blog zum Online Award des eher unpunkigen Grimme-Instituts.
+++ Und gibt es eigentlich Bedarf nach einem neuen MDR-Bösewicht? Der aktuelle, Reinhard Mirmsecker, hat immerhin den Vorzug, dass sein Name wie der einer Eckhard-Henscheid-Romanfigur klingt. Ulrike Simon beschäftigt sich in der Berliner Zeitung mit dem Mann, der an diesem Dienstag seinen Posten als Chef von MDR?1 Radio Sachsen-Anhalt „Knall auf Fall“ los wurde: „Die Sache liegt beim Personalrat, die (fristlose) Kündigung dürfte Formsache sein. Vorgeworfen werden ihm keine strafrechtlich relevanten, wohl aber arbeitsrechtliche Verstöße. Von Unregelmäßigkeiten bei Auftragsvergaben ist die Rede und davon, dass er gegen die Dienstregeln verstoßen habe, Firmenbeteiligungen und Nebentätigkeiten offenzulegen. Ein wirtschaftlicher Schaden sei nicht ersichtlich, heißt es, doch das hieß es schon oft.“
+++ Auf jeden Fall Bedarf gibt es offenbar für satirische Texte zu Medienthemen: Von den hirnerweichenden Talkshows zum Thema Fußball (siehe Altpapier) hat sich 11freunde.de inspirieren lassen. „Was wäre, wenn Iran Israel angreift?“ fragt Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen und unternimmt „eine fiktive deutsche Medienschau“. Und die einzig sinnvolle Reaktion auf Thilo S. ist beim YouTube-Kanal ZDFlachbar zu entdecken.
+++ Constanze Kurz sinniert in ihrer FAZ-Kolumne „Aus dem Maschinenraum“ über die Zukunft der Gruppierung Anonymous: „Ob (sie) in der heutigen Form weiterbesteht, ob als Label oder als Bewegung, wie es mutieren und sich verändern wird, ist schwer vorherzusagen. Es gibt vereinzelte Bestrebungen, eine Art Handlungsethik (...) zu etablieren (...) Es gibt auch die Ansicht, die Idee von Anonymous hätte sich im Kern überlebt, einerseits durch Unterwanderung, andererseits durch die unkontrolliert gestiegene Attraktivität der Marke, die hohe Aufmerksamkeit auch für kontraproduktive Aktionen bekommt. Was in jedem Falle bleiben wird, ist die Erkenntnis, dass politischer Widerstand nicht unbedingt ein Gesicht benötigt (...).“
+++ „Fünf Gebote einer neuen Medienpolitik“ hat laut horizont.net der Hamburger Bürgermeister und nebenbei noch als Mediensenator wirkende Olaf Scholz am gestrigen Abend bei einem Senatsempfang anlässlich des Mediendialogs 2012 präsentiert. Unter anderem fielen folgende Sätze: „Der Kern unserer Öffentlichkeit liegt zu Recht in den Händen professioneller und profitorientierter Medienmacher. Ihr verantwortungsvoller Geschäftssinn sichert gleichzeitig, dass unsere Gesellschaft reichweitenstark mit Information versorgt wird." Puh, verantwortungsvoller Geschäftssinn, das ist selbst für sozialdemokratische Verhältnisse harter Stoff. Das Hamburger Abendblatt war auch zugegen.
+++ Der Aufmacher der SZ-Medienseite ist heute den Internet-Berichterstattungsplänen von ARD und ZDF zu den Olympischen Spielen gewidmet: „Statt wie noch in Peking von bisweilen zehn parallelen Wettkämpfen in den gesetzlich genehmigten Digitalkanälen (...) zu berichten, setzen ARD und ZDF zwischen dem 27. Juli und 12. August aufs Internet. Bis zu 60 Stunden Programm soll täglich auf sechs gleichzeitigen Livestreams bewältigt werden. Die Netz-Verbreitung sei billiger, als die Digitalsender für Olympia einzuspannen, heißt es. So kann man bei der Online-Verwertung beispielsweise auf eine Regiebesetzung verzichten und übernimmt nur das Signal, also das Bildangebot, das vom IOC zur Verfügung gestellt wird.“ Dass ein kleiner Teil der Streams unkommentiert sein wird, findet Stephan Seiler etwas seltsam: „Das muss man mögen.“ Siehe zu dem Thema auch ein Artikel von mir in der Funkkorrespondenz - und natürlich das Altpapier.
+++ Die am Donnerstag an ziemlich genau dieser Stelle im Altpapierkorb kurz aufgegriffene „Negerpuppen“-Causa, die bei einer Sarah-Kuttner-Lesung ins Rollen kam, stellt sich mittlerweile etwas anders dar als der hier verlinkte Welt-Online-Bericht es nahelegt. publikative.org zum Beispiel spricht von einem „Skandal, der keiner ist“ (und entschuldigt sich auf souveräne Weise dafür, dass man selbst einen anderen Eindruck erweckt hat). Näheres dazu auch bei Spiegel Online und jetzt.de.
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag nach Pfingsten.