Vom Gericht als Bühne ist heute viel die Rede - obwohl ein Gericht doch immer eine Bühne ist. Außerdem: Gremlins erweisen sich als weise, der Felsbrockenwerfer Sergey Brin (Google) provoziert Reaktionen, und die Urheberrechtsdebatte ist eine Scheindebatte.
Der Beginn des Prozesses gegen den Massenmörder Anders Breivik und - zumindest teilweise - auch die Rolle der Medien im Verfahren dominieren die Debatten. Dazu erst einmal ein paar nüchterne Fakten:
„Insgesamt rund 1400 Medienvertreter verwandeln die Osloer Innenstadt in eine Bühne. CCN, BBC und deutsche Sender haben ihre Übertragungswagen vor dem Gerichtsgebäude geparkt. Auch das chinesische Staatsfernsehen ist dabei. Wegen des hohen medialen Interesses wurde der Gerichtssaal für über vier Millionen Euro umgebaut“,
weiß zum Beispiel Meedia. Die taz ergänzt:
„Für zehn Wochen – 41 Tage – werden zwischen 1.400 und 1.500 Mitarbeiter aus 224 Redaktionen über diesen Prozess berichten. Darüber hinaus sind 160 Opferanwälte zugegen, die die 780 Geschädigten vertreten. (...) Zusätzlich werden Ton und Bild in Gerichtssäle in 17 anderen norwegischen Städten übertragen. Dort haben Presse und Publikum keinen Zutritt. Die Opfer und Hinterbliebenen sollen dabei sein dürfen – aber in Frieden.“
Zeit für eine erste Zwischenbilanz:
„Solch ein internationales Medienaufgebot wie jetzt beim Gerichtsprozess kennen die Osloer eigentlich nur von großen Wintersportveranstaltungen und vom Eurovision Song Contest“,
schreibt ebenfalls die taz, also das große Eurovision-Song-Contest-Fachblatt.
Ein erste Zwischenbilanz hat auch ein ungenannt bleibender Sprecher des Deutschen Anwaltsvereins gezogen, der in der Frankfurter Rundschau die Ansicht vertritt, in Deutschland sollten Live-Übertragungen aus dem Gerichtssaal verboten bleiben:
„Der Auftritt Breiviks sei ein gutes Argument für das deutsche Rechtssystem (...) Die Bühne, die Breivik am ersten Tag geboten wurde, sei kaum zu vermitteln und nahezu unerträglich, argumentierte der Verband.“
Durchaus möglich ist es aber für ein deutsches Medium, live zu berichten, wenn sich der Gerichtssaal nicht in Deutschland befindet, jedenfalls praktizierte das am Montag stern.de, das einen von Reuters angebotenen englischsprachigen Livestream aus Oslo übernahm. Das Schlagwort in der Berichterstattung lautet Bühne:
„Der Massenmörder nutzt das Amtsgericht in Oslo vor allem als Bühne für sich selbst“,
schreibt zum Beispiel Focus Online. Ex-Altpapier-Autorin Katrin Schuster ist aufgefallen, dass diese Darstellung, mit der Spiegel Online Breiviks Inszenierung kritisiert, nicht ganz frei von Widersprüchen ist. Welt Online geißelt, ähnlich wie die Hamburger, gleich im Vorspann die „Selbstinszenierung“ Breiviks, präsentiert, wie Spiegel Online und nicht wenige andere, als Aufmacher aber den von Breivik offenbar genossenen Höhepunkt eben dieser Inszenierung: die ausgestreckte rechte Hand inclusive geballter Faust - eine Geste, die er sehr lange geplant haben dürfte. Das Muster der Berichterstattung ist bekannt: Man kritisiert die Inszenierung, erfüllt dem, der sich da inszeniert, aber seine Wünsche. Auch interessant: Wie hätten „die Medien“ denn eigentlich reagiert, wenn Breivik die Bühne bzw. die „große Bühne“ (n-tv), die sie für ihn errichtet haben, nicht genutzt hätte?
Christian Bommarius weist in seinem Leitartikel für die Frankfurter Rundschau darauf hin, dass es alles noch hätte ganz anders kommen können:
„Im Prozess gegen Anders Breivik haben der Massenmörder und die norwegischen Medien zu einer denkwürdigen Koalition gefunden. Beide haben verlangt, dass die auf mehrere Tage angesetzte Aussage Breiviks live im Fernsehen übertragen werden dürfe. Breivik wünscht das, (...) um nach der Propaganda der Tat der Propaganda seiner Rechtfertigung größtmögliche Verbreitung zu garantieren. Der norwegische Journalistenverband wiederum besteht auf der Fernseh-Liveübertragung der Aussage Breiviks selbstverständlich unter Berufung auf das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit, auf ihren Anspruch auf Authentizität, auf ihr Recht, das weltweit beachtete Verfahren aus größtmöglicher Nähe, also mit dem Auge der Kamera zu verfolgen. Das Amtsgericht hat beide Anträge verworfen. Zu recht. Die Richter haben Breivik und den Medien verweigert, was beide übereinstimmend kaum verhüllt begehrten – die Umwidmung des Strafverfahrens in einen Sensationsprozess und die mediale Metamorphose Breiviks vom Massenmörder zum Diskursteilnehmer.“
Gewissermaßen als Buch des Tages erweist sich Cornelia Vismanns „Medien der Rechtsprechung“, das 2011 veröffentlicht wurde. Ekkehard Knörer hat das posthum erschienene Werk der 2010 verstorbenen Rechtshistorikerin und Medientheoretikerin im vergangenen Jahr für den Freitag gewürdigt:
„Die Rechtsprechung ist, so die zentrale These von Vismann, ihrer Natur nach theatral ... Dass alle Beteiligten vor Gericht und im Gericht etwas spielen, ist für die Funktion des Rechts essenziell.“
Einen weiteren Aspekt des Themas Breivik-Prozess und die Medien greift Nils Minkmar für die FAZ auf. Er kritisiert das Erlanger „Institut für Medienverantwortung“, das gefordert hatte, „auf die Verbreitung des Tätergesichts zu verzichten“:
„Wäre ja noch schöner, wenn man Breivik zuliebe den Grundsatz der Öffentlichkeit von Strafverfahren hintergehen würde und ihm, in einer durch und durch abgebildeten Welt, den Sonderstatus eines Mannes ohne Gesicht zubilligte, so wie man in der frühen Neuzeit nicht vom Teufel sprechen wollte.“
[+++] Zu den großen Themen jenseits des Breivik-Prozesses: Dass Google-Gründer Sergey Brin die Internetfreiheit von allen Seiten bedroht sieht, durch zensurfreudige totalitäre Staaten, durch die Unterhaltungsindustrie, durch Apple und Facebook, aber natürlich definitiv nicht durch Google - dies hat erwartungsgemäß zahlreiche Reaktionen provoziert. CNN Money fasst zusammen. Offensichtlich hat da einer, der im Glaspalast sitzt, mit Designer-Felsbrocken um sich geschmissen. Johannes Kuhn analysiert bei süddeutsche.de:
„Natürlich ist das freie Web eine großartige Sache, aber im Falle Googles eben auch Geschäftsgrundlage. Was Apps und Portale auf der einen Seite, ist das Google-Login auf der anderen: Nur bei genügend Suchanfragen angemeldeter Nutzer wird Google mittelfristig sein Geschäftsmodell vergolden können, wenn es darum geht, wirklich personenbezogen Interessen zu finden oder sogar zum persönlichen Assistenten zu werden.“
In der gedruckten SZ findet sich im Feuilleton ein Text des Kulturwissenschaftlers Felix Stalder, der sich nicht auf Brins aktuelle Äußerungen bezieht, aber bestens in die Debatte sich einfügt:
„Mit Apple, Facebook, Google, Twitter & Co. sind mächtige Akteure einer neuen Industrie entstanden, die nicht mehr auf die Produktion und Vervielfältigung kultureller Inhalte ausgerichtet sind, sondern auf das Herstellen und Verwalten von Beziehungen, sei es zwischen Personen oder zwischen Personen und Gütern. Hier, auf der Ebene der Plattformen, wirken ökonomische Größenvorteile der Vielfalt entgegen. (...) Diese Entwicklung ist problematisch. Es entstehen neue Monopole, die ihre Marktmacht zu Ungunsten der Anbieter und Nutzer kultureller Produkte ausnützen. Sowohl Apple, mit iTunes und App Store, als auch Google, besonders mit Google Books, zeigen deutlich, dass die Inhaber dominanter Plattformen sehr viel Macht gegenüber ihren Nutzern (Produzenten und Rezipienten) gewonnen haben, und sich auch nicht scheuen, diese Macht in ihrem eigenen Interesse einzusetzen. Während diese Form des Monopols konventionell ist, haben andere Quellen der Macht eine neue Qualität erreicht. Digitale Kommunikation kann sehr viele Spuren hinterlassen und die Plattformen (...) Dadurch gelingt es den Eigentümern der zentralen Plattformen, detailliertes, umfassendes Wissen über die Dynamiken der Gesellschaft in Echtzeit zu erlangen. Dieses ist klassisches Herrschaftswissen.“
[+++] Zu einem, wenn nicht sogar dem anderen großen Thema aus der Online-Debattenwelt, dem Urheberrecht, hat sich Stalder kürzlich auch an einigermaßen prominenter Stelle geäußert. Eben dieses Thema dominiert heute die Aufmacherseite des FAZ-Feuilleton. „Was alles falsch läuft in der Urheberrechtsdebatte“, lautet ein Satz im Vorspann zu Malte Weldings Haupttext, und, ja, man hat solche Formulierungen in Vorspännen schon oft gelesen - aber das Versprechen wird eingelöst:
„Wenn (...) die Radikalinskis unter den Netzphilosophen sagen, die Gesellschaft schulde den Schöpfern kein Verwertungsmodell, oder: Wer Geld verdienen will, der soll arbeiten, dann trifft hier der schönste deutsche Intellektuellenhass auf das zutiefst unmaterialistische, um nicht zu sagen: narzisstische Selbstbild der Künstler. (...) Wir führen eine Scheindebatte, wenn wir über das Urheberrecht reden. Wir müssen über Geld reden. Über ein tiefes Missverständnis darüber, was eine Marktwirtschaft ausmacht. Eine Marktwirtschaft floriert nämlich nicht dann, wenn rohe Kräfte sinnlos walten, sondern dann, wenn die Teilnehmer leben können. Selbst die Auftraggeber in den Medien, die es ja eigentlich besser wissen müssten, finden es immer etwas seltsam, wenn man Geld für seine Arbeit verlangt oder gar nachverhandelt. Hat man denn nicht Mitteilungsdrang? Schaffensverlangen?“
Direkt darunter: Michael Hanfeld interviewt Agnes Krumwiede, die kulturpolitische Sprecherin der Grünen, die in Sachen Urheberrecht wesentlich kompetenter als die sog. Netzpolitiker ihrer Partei:
„Forderungen wie nach einer Verkürzung der urheberrechtlichen Schutzfristen bedienen in erster Linie die Interessen großer Internetkonzerne. Diese Parallele ist noch viel zu wenig im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen. Dass Google auch in Berlin ein Institut finanziert zur ‚unabhängigen‘ Erforschung von Internetfragen, bereitet mir Unbehagen. Wie unabhängig ist Forschung, wenn sie von einem Internetriesen finanziert wird? Internetkonzerne wie Google würden direkt und im großen Stil von einer Schwächung des Urheberrechts profitieren. Je mehr Inhalte ein Internetkonzern kostenfrei oder ‚billig‘ anbieten kann, desto größer werden seine Attraktivität und Reichweite. Durch eine größere Reichweite und Aufmerksamkeit werden Internetkonzerne einflussmächtiger, ihr Marktwert steigt. Die Verlierer sind die Urheber – als schwächstes Glied im Verteilungskampf um die Erträge ihrer eigenen Inhalte.“
+++ Heute entscheidet eine außerordentliche Mitgliederversammlung der Deutschen Fußball-Liga (DFL) über die Vergabe der Übertragungsrechte für den Zeitraum 2013 bis 2017. Dass die Entscheidung de facto bereits gefallen ist, berichtet Focus Online mit Berufung auf die Bild-Zeitung. Sky und die Sportschau sind demnach die Sieger.
+++ Mehr Sky: Dietrich Leder hat für sein „Journal der Bilder und der Töne“ notiert, dass beim Top-Spiel der vergangenen Woche - als in Dortmund praktisch die deutsche Meisterschaft entschieden wurde - die Expertenrunde des Senders einen vorher gelaufenen Beitrag, der belegte, dass eine Elfmeterentscheidung falsch war, einfach ignoriert hat (funkkorrespondenz.de).
+++ Die Weisheit der Gremlins: „Wenn es nach dem WDR-Rundfunkrat geht, dann wird es künftig weniger Talkshows im Ersten geben. Mit nur einer Stimme Enthaltung billigte das Aufsichtsgremium des größten Senders im Verbund am Montag eine Stellungnahme, in der von der ARD verlangt wird, in Sachen Talk auf Diät zu gehen.“ Das berichtet Hans Hoff in der SZ. Konkret fordern die Räte, die ARD solle auf eine ihrer fünf Talkrunden verzichten, sagen aber nicht, auf welche. Sie könnten sich aber auch vorstellen, dass zwei im wöchentlichen Wechsel laufen, schreibt Hoff.
+++ Im umfangreichsten Text der SZ-Medienseite setzt sich Sonja Zekri mit Avaaz auseinander, der laut Guardian „größten und ehrgeizigsten der neuen Aktivistenorganisationen für eine vernetzte, globalisierte Welt“, ein laut Zekris Recherchen aber teilweise auch dubioser Verein, an dem, wie bei anderen Online-Bewegungen, unter anderem nicht unproblematisch sei, dass er seine „Durchschlagskraft gerade aus der Verschmelzung von Laien-Journalismus, politischem Lobbyismus und simpelstem Inhalt“ gewinne. Dessen Gründer Ricken Patel - der anderswo, nämlich bei freitag.de, auch in der oben erwähnten Debatte um Sergey Brins Äußerungen zu Wort kommt - spreche „gelegentlich etwas herablassend von anderen Nichtregierungsorganisationen, die den offenen Rechtsbruch scheuen“. Am Ende stellt Zekri grundsätzliche Fragen: „Wer kontrolliert eigentlich die digitalen Weltretter? Wer zieht sie bei Fehlern zur Verantwortung?“
+++ Noch ein Ausläufer der Grass-Debatte: Deniz Yücel knöpft sich in der taz den als Grass-Verteidiger auffällig gewordenen Jakob Augstein vor, der am Sonntag bei Jauch „beim Versuch, die Scheiße von sich zu wischen, immer tiefer in den braunen Dreck“ gerutscht sei. Yücel schreibt, Augstein sei „Minderheitsgesellschafter des Spiegel, Gutsherr des Freitag und nebenher – weil nicht genug Leser nach der Meinung seines ‚Meinungsmediums‘ fragen – Kolumnist bei Spiegel Online“, und diese Wortwahl deutet bereits darauf hin, dass es beinahe mehr ein Text über Augstein ist als einer über Grass.
+++ Noch ein Ausläufer der Debatte um den Anti-Roma-Titel der Weltwoche: The Open Society Foundation hat den Jungen gefunden, dessen Foto das Schweizer Wochenblatt missbraucht hat, und mit dem Vater gesprochen.
+++ Die Pulitzer-Preise sind vergeben: Bei Longreads findet man Links und Teaser zu den Gewinner-Texten, das Nieman Journalism Lab würdigt die Online-Preise für Politico für die Huffington Post, die zum ersten Mal ausgezeichnet wurde. Eine dpa-Zusammenfassung findet man bei der Berliner Zeitung.
+++ Wolfgang Kraushaar rekapituliert in der gerade erschienenen Ausgabe von Mittelweg 36, wie sich 1970 Karl Gerold, der damalige Herausgeber und Chefredakteur für iranische Hungerstreikende einsetzte, die gegen die Verfolgung von Oppostionellen in ihrem Land demonstrierten. Gerold, so Kraushaar mit Bezug auf unter anderem dieses Buch, sei durch die Weltgeschichte gereist, um Hungerstreikende zu treffen, habe persönlich Druck auf Politiker ausgeübt und eine wesentliche Rolle bei den letztlich erfogreichen Verhandlungen gespielt. Man muss wohl kein nörgeliger Nostalgiker sein, um zu konstatieren, dass ein derartiges politisches Engagement weder bei einem Herausgeber noch einem Chefredakteur einer überregionalen Tageszeitung vorstellbar wäre.
+++ Zu den Schwestern der FR gehört in heutigen Zeiten bekanntlich der Kölner Stadt-Anzeiger. Der „trommelt“ für den Einzug der FDP in den nordrhein-westfälischen Landtag etwas lauter als andere Mainstream-Medien, meinen die Nachdenkseiten. Anstoß ist ein - je nach Sichtweise - im redaktionellen Teil des Dumont-Blatts erschienener bzw. dort lediglich „dokumentierter“ Wahlauruf diverser FDP-Granden, in dem tolle Sätze stehen, zum Beispiel: „Christian Lindner hat kraft seiner Persönlichkeit die politische Landschaft verändert.“
+++ FDP-Inhalte solcher Art greift der Blog NRW in Bambis Hufen auf.
+++ Darf man seltsam finden: Medienunternehmen, die im Online-Banking-Geschäft mittun. Das macht künftig die Schweizer Plattform cash.ch (siehe ebd. und persoenlich.com)
+++ Sieben externe Kandidaten haben sich neben der derzeit amtierenden Dagmar Reim für den Posten des Intendanten beim RBB beworben, berichtet der Tagesspiegel. „Über die Qualifikation der Kandidaten“ sei aber noch „nichts bekannt“.
+++ Die taz empfiehlt die 90-minütige arte-Doku „Die Mädchenbanden von L.A."
+++ Selten geworden: die gedruckte Nachkritik. Heike Hupertz schreibt in der FAZ über den gestrigen ZDF-Montagsfilm „Tod einer Brieftaube“. Es geht dabei auch generell um den „Dorfkrimi, der im Fernsehen zum eigentlichen Heimatfilm geworden“ sei, sowie dessen „Dekonstruktion“.
+++ Außerdem auf der FAZ-Medienseite: Dank YouTube wurde wieder einmal dokumentiert, wie ein Hooligan in Uniform einen friedlichen Zivilisten misshandelt. Im aktuellen Fall geht es um einen israelischen Armeekommandant, der einen dänischen Palästinenserfreund mit einem Gewehrkolben traktiert.
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.