Die Mediendebatte der Stunde dreht sich um neue Eskalationstendenzen im Sport- und Sensationsjournalismus. Außerdem: Zappen tut gut, RTL schwächelt, die WAZ wird lokaler. Ach ja, Facebook geht heute an die Börse.
Verdammter Feiertag! Dies dürften sich manche Zeitungsmanager gedacht haben angesichts des verkaufsträchtigen Stoffs, den ihre Blätter für ihre Ausgaben am Donnerstag gehabt hätten, wenn dieser denn ein Werktag gewesen wäre: Am Dienstag kam es in Düsseldorf zu später Stunde zu „Zuständen wie im Bürgerkrieg“, jedenfalls nach Ansicht des Bürgerkriegsfachblatts kicker, dessen Chefredakteur bei der Abfassung seines Kommentar wohl keine Ausgabe des Grundgesetzes in Reichweite hatte, wie es dieser Offene Brief eines Rechtsanwalts nahe legt; nach recht weit verbreiteter Ansicht ging das Fußball-Abendland unter, weil ein paar brave, siegestrunkene Bürger in der Endphase des Relegationsspiels zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC voreilig den Platz gestürmt hatten. Am Nachmittag des folgenden Tages entließ die Kanzlerin einen ihrer Co-Trainer, weshalb die ARD am Mittwochabend gleich zwei „Brennpunkte“ ins Programm hievte. Der über Fußball war übrigens der erste zu diesem Thema seit zwei Jahren.
Während der Wechsel von Norbert Röttgen zu @peteraltmaier unter medienkritischen Aspekten wenig hergibt, verhält es sich mit dem vermeintlichen Bürgerkrieg im Stadion völlig anders. An Meta-Berichterstattung mangelt es nicht, einen guten Überblick liefert zum Beispiel Nicole Selmer bei publikative.org:
„Der Düsseldorfer Lauf auf dem Platz, verfrüht oder nicht, stellt keine neue Qualität von Gewalt dar. Es ist jedoch eine neue Qualität von Berichterstattung, wenn Ereignisse wie diese zu ‚Schnittstellen‘“ erklärt werden, nach denen sich etwas ändern müsse. (...) Wenn der voreilige Jubelsturm der Fortuna-Fans, wie beim ZDF in einem Atemzug mit Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine genannt wird, verschiebt das einmal mehr die Grenzen dessen, was als ‚unfassbar‘“ und ‚skandalös‘ gilt.“
Die von Selmer erwähnte Ukraine-Passage steht in diesem Text von zdf.de, aber auch die ARD leistete sich Peinliches. Im bereits erwähnten Brennpunkt etwa diente Moderator Sven Lorig nur als Stichwortgeber für den wirren Eskalationsrhetoriker Helmut Sandrock, der sich DFB-Generalsekretär nennen darf. Dass es bei der ARD trotz allem noch Leute gibt, die wissen, wie öffentlich-rechtlicher Journalismus geht, zeigt dieser nüchterne Kommentar von tagesschau.de:
„Mitnichten ist es, wie heute immer wieder behauptet wird, das erste Mal, dass feiernde (!) Fans kurz vor Spielende den Platz stürmten. Das ist bereits mehrfach passiert, in Köln, St. Pauli und Duisburg beispielsweise. In keinem dieser Fälle, allesamt aus den 1990er Jahren, war danach von einer Schande die Rede, angenehm unaufgeregt reagierten die Kommentatoren damals. Davon kann heute keine Rede sein.“
Der Blog Fußball von links beklagt aus anderen Gründen den fehlenden historischen Blickwinkel in der Berichterstattung:
„Es ist ganz offensichtlich bei vielen der Bezugsrahmen verlorengegangen in den letzten Jahren. Noch vor zwanzig Jahren etwa waren Schlägereien zwischen aber auch innerhalb von Fangruppen sogar im Stadion noch die Regel. Schwere Gewalt war an der Tagesordnung (...) Dagegen ist das, was heute passiert, auch wenn es in den letzten ein, zwei Jahren sicher eine gewisse Zunahme an schwereren Vorfällen gab, nichts als Pipifax.“
Markus Völker rückt in der taz die Verhältnisse mit der Überschrift „Öffentlichkeit außer Kontrolle“ zurecht und geißelt die „hysterisierende Nachberichterstattung“:
„Es ist schlichtweg nicht mehr vorgesehen, dass (der Fan) aus seiner Rolle des braven, auf seinem Sitzplatz verharrenden Jubelkomparsen schlüpft. Überwindet er aber die fast schon hermetische Trennung zwischen Spieler und Anhänger und überrascht dann die VIPs und VIP-VIPs mit unvorhergesehener Fußballemotion, dann tritt der Wächterrat auf den Plan. Er rekrutiert seine Mitglieder aus den Reihen des DFB, der Fußball-Profiliga DFL und geneigter Redaktionen. Es ist eine Koalition der Spielverderber.“
„Müssen wir jetzt ganz neu über Sportjournalismus nachdenken?“ fragt der Chemieblogger. Es handelt sich dabei - für die Nicht-Fußball-Fans unter den Lesern sei es gesagt - um den Anhänger eines Leipziger Vereins, nicht um einen Wissenschaftsblogger. Das Problem ist aber auch, dass dann, wenn es irgendwie um Fußball geht, jeder Journalist glaubt mitreden zu können. Michael Naumann zum Beispiel bringt bei Cicero Online beinahe alles durcheinander, was man durcheinander bringen kann (siehe dazu auch einige Kommentare bei Facebook). Der Text ist von einer ähnlichen Sprunghaftigkeit geprägt wie ein anderer vor ein paar Monaten im Altpapier zitierter Text Naumanns. Nur eine Kostprobe:
„(Die) Zügellosigkeit (der Platzstürmer) spiegelte die Härte der Fouls wider, die inzwischen den Fußball zu einem Kampfsport gemacht haben."
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[+++] Vom Fußball zu Facebook. Im Zusammenhang mit dem heutigen Börsengang des sozialen Netwerks stellt die FAZ die Machtposition des Firmengründers heraus:
„Mark Zuckerberg hält laut Börsenprospekt 533,8 Millionen der mit zehn Stimmrechten ausgestatteten B-Aktien, was ihm einen Anteil von 28 Prozent an den Stimmrechten gibt. Zusätzlich haben ihm eine ganze Reihe anderer Altaktionäre Stimmrechte überschrieben. (...) Die Konzentration der Macht bei Gründern oder allgemein einer sehr kleinen Gruppe von Eigentümern war zwar zuletzt vor allem ein Phänomen in jungen Internetunternehmen, sie ist aber nicht darauf beschränkt. Gerade in Medienunternehmen halten oft Inhaberfamilien einen großen oder sogar kontrollierenden Anteil. Etwa der von Rupert Murdoch geführte Medienkonzern News Corp., der im vergangenen Jahr ein spektakuläres Beispiel für die Machtlosigkeit von freien Aktionären in Unternehmen mit dominierenden Anteilseignern geliefert hat.“
Die Online-only-Ausgabe des deutschen Wall Street Journal, ein Medium des in der FAZ nicht wohlwollend erwähnten Murdoch, gibt zu bedenken:
So groß die Begeisterung der Investoren, insbesondere der Privatanleger, ist - hinter dem Börsengang von Facebook stehen auch einige Fragezeichen. Dass viele Altaktionäre Kasse machen, werten Skeptiker als Signal, dass diese nicht an nachhaltig steigende Aktienkurse glauben. Zumal die Aktie alles andere als günstig ist. Facebook hat 2011 unter dem Strich eine Milliarde Dollar verdient. Zum Ausgabepreis wird das Unternehmen folglich mit einem dreistelligen Kurs-Gewinn-Verhältnis bewertet. Auch die Relation vom Aktienkurs zum Umsatz ist alles andere als günstig.
Eher eine Empfehlung spricht dagegen Robert Wright (The Atlantic) aus, wobei er Zuckerbergs Laden auch mit anderen Technologie-Giganten vergleicht:
„If you're thinking about buying into this week‘s Facebook IPO, the various transgressions and missteps of Mark Zuckerberg and Facebook don't really matter. Facebook has a magical property that insulates it from user discontent. It's a property that other big tech companies - Microsoft, Google, Apple - don't have nearly as much of. And it's the reason I think Facebook is a better long-term bet for investors than any of these companies.“
In der „Gewinnwarnung“, die man auf der Medienseite der FAZ findet, geht es nicht um Börsensaspekte. Formuliert wird sie von Thilo Weichert, Leiter des Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz in Kiel (ULD) und Facebook-Oberkritiker hier zu Lande. Im Interview mit Michael Hanfeld sagt er, der Herr Zuckerberg müsse sich, um es mal flapsig zusammenzufassen, warm anziehen. Vor einem Dreivierteljahr, so Weichert, habe das ULD
„damit begonnen, Facebook zu analysieren und zu kritisieren. Die Empörung, die uns zunächst entgegenschwappte, ist verebbt (...) Wir finden immer mehr Zuspruch – in der Politik und in ganz Europa, weniger bei der Regierung Obama in den Vereinigten Staaten; wohl bei Verbraucherministerin Ilse Aigner, vielleicht weniger bei Innenminister Hans-Peter Friedrich, dafür aber bei der EU-Kommissarin Viviane Reding. Die EU-Kommission hat inzwischen den Entwurf für eine europäische Datenschutzverordnung vorgelegt. Mit der hätten wir ein Instrument, um Facebook datenschutzrechtlich an die Kandare zu nehmen. Facebook muss sich – zumindest mittelfristig – bewegen, anderenfalls werden sie auf dem europäischen Markt ein riesiges Problem haben.“
Die SZ schließlich nimmt die Tatsache, dass Facebook heute das Spitzenthema ist, zum Anlass auf der Medienseite auf eine absurde Begebenheit aus Österreich hinzuweisen: Ein Gericht hat dort kürzlich geurteilt, die Facebook-Seiten das ORF seien gesetzeswidrig. Der Text steht noch nicht online, dafür aber einer, der in der vorigen Woche zu dem Thema anderswo im SZ-Imperium erschienen ist.
ALTPAPIERKORB
+++ Hat der Rücktritt des Berliner Piratenparteichefs Hartmut Semken etwas damit zu tun, dass der Spiegel den Informantenschutz verraten hat? Diese Frage stellt der Tagesspiegel.
+++ „Let’s Get Back to Real Foreign Reporting“, fordert Edward Girardet in der New York Times. Seine These: „The Soviet occupation of Afghanistan during the late 1970s and 1980s was the last time western journalists had the luxury of reporting a conflict properly.“ (via @st_burkhardt).
+++ Zappen tut gut, erfahren wir im heute ganz dem Fernsehen gewidmeten SZ-Magazin. „Heute haben die Medienpädagogen mit neuen Krisenschauplätzen im Internet zu tun, und im Rückblick auf die Hochzeit des Fernsehens stellt sich etwas ganz anderes heraus: Das Zappen, 20 Jahre lang mit aller Macht bekämpft, wird als spezifisches Merkmal dieses Mediums in Erinnerung bleiben“, schreibt Andreas Bernard in einer kulturhistorischen Abhandlung,
+++ Peer Schader berichtet in der Berliner Zeitung darüber, dass RTL Quotenprobleme hat, etwa bei „DSDS“ und am Vorabend: „Die Situation ist ungewohnt für RTL, weil die Verantwortlichen in Köln bisher darauf eingerichtet waren, dass sich die Konkurrenz nach ihnen richten muss – und nicht umgekehrt. Deshalb ist auch eine gewisse Nervosität zu spüren: Als ProSiebenSat.1 im vergangenen Dezember die Castingshow ‚The Voice of Germany‘ startete, setzte RTL kurzfristig eine ‚Supertalent‘-Ausgabe dagegen – und musste sich überraschend geschlagen geben. Allein mit Konkurrenzabwehr wird RTL seine Schwäche nicht überwinden. Derzeit fehlt es an erkennbaren Strategien, neue Erfolgsprogramme aufzubauen.“
+++ Der Schauspieler Michael Gwisdek kritisiert ziemlich scharf den kommenden ZDF-Montagsfilm „Schmidt & Schwarz“, in dem er selbst einen der Protagonisten mimt, und weil es ungewöhnlich ist, dass ein Beteiligter das vorab tut, greift Christopher Keil auf der SZ-Medienseite die Kritik auf, die man in den vergangenen Tagen auch hier und hier finden konnte.
+++ Eine Schreckensnachricht, allerdings eine wenig überraschende: Monika Piel kandidiert Ende Mai wieder als WDR-Intendantin . Sonst bewirbt sich niemand. Unklar ist noch „ob die Intendantin ihre zweite Amtszeit möglicherweise verkürzen“ wird (funkkorrespondenz.de).
+++ Mehr Neuigkeiten aus NRW: Steffen Grimberg schreibt in der taz über so eine Art Back-to-the-roots-Kurs bei der WAZ: „Erst setzt man allen Warnungen zum Trotz auf einen quasi überregionalen Kurs und verprellt LeserInnen, die von ihrer Lokalzeitung in erster Linie nun mal qualifizierte Regional- und Lokalberichterstattung erwarten. Parallel peitscht der Konzern das drastischste Sparprogramm der Unternehmensgeschichte durch. Und nun soll – bei sinkenden Auflagen und ohne neue Investitionen – das Rad der Zeit zurückgedreht werden.“
+++ Warren Buffett, der drittreichste Mensch der Welt, hat in den USA gerade 63 Tages- und Wochenzeitungen erworben. Der Business Insider zitiert ihn mit den folgenden goldenen Worten: „In towns and cities where there is a strong sense of community, there is no more important institution than the local paper.” Mehr dazu bei paidcontent.org.
+++ Für den Freitag (Seite 23) porträtiert Christine Käppeler den ZDF-Meteorologen Gunther Tiersch. „Wenn ich den Klimawandel anspreche, melden sich die Klimaskeptiker sofort. Aber wir kennen die physikalischen Zusammenhänge. Die Erkenntnis, dass es den Klimawandel gibt, kommt ja aus der Meteorologie“, sagt er. Irgendwie haben es die Journalisten gerade mit diesen Wetter-TV-Menschen, es ist ja erst eine Woche her, dass Claudia Kleinert im Zeit-Magazin in der Rubrik „Ich habe einen Traum“ auftauchte.
+++ Und hatten wir heute gar nichts mit Urheberrecht? Stimmt, deshalb sei noch darauf verwiesen, dass Ex-Altpapier-Autorin Katrin Schuster eine zu diesem Themenkomplex gehörende Replik Thierry Chervels auf einen Beitrag der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff zerpflückt.
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.