Angst vor dem Leser

Droht im Journalismus ein Ende der Exklusivität, wie wir sie kannten? Außerdem: Jan Fleischhauer und - immer noch - Roger Köppel kriegen Kontra. Und ein Pressesprecher der Piratenpartei macht „Mi, mi, mi.“

Dass wir in post-analogen Zeiten leben, ist keine neue Erkenntnis mehr. Dass wir aber auch in „post-exklusiven“ Zeiten leben, ist möglicherweise noch nicht so oft gesagt worden. Den Begriff bringt gerade das britische Wochenmagazin New Statesman ins Spiel. Exklusivität, so die These, habe heute in der Berichterstattung einfach nicht mehr die Bedeutung, die sie vor wenigen Jahren noch gehabt haben mag. Das Blatt erläutert dies unter anderem anhand eines exklusives Artikels, der kürzlich in Sunday Times erschienen ist, eines Artikels, der, so der New Statesman, auch noch in einem weiteren Sinne exklusiv war, weil er sich nämlich hinter einer Paywall verbarg. Aber:

„It didn’t take more than an hour or so for the first versions of the story to appear on unpaywalled, unrestricted, free-to-see news websites and aggregators. Once the story was out, it was out. It wasn’t exclusive any longer. If you’d already bought a Sunday paper, and were using that Sunday paper as a way of hoping to get exclusive stories, you might be slightly peeved; but Sunday papers are about so much more than news, and besides, any self-respecting news junkie would catch up online or via TV news channels soon enough. That way they could get the analysis of the fast-moving story as it progressed throughout the day, including the reaction to it. There was no need to buy the Sunday Times.“

Auf die beschriebene Weise entwickeln sich ja heute zahlreichen Geschichten, egal, ob sie nun im klassischen Sinne exklusiv sind oder nicht. Zu 99 Prozent nicht-exklusiv sind übrigens seit jeher die Abbildungen in dieser Kolumne, so auch der heutige Screenshot, dessen Verwendung sich erst in der zweiten Meldung des Altpapierkorbs erklärt. Mit dem drohenden Ende der Exklusivität, wie wir sie kannten, sind wir auch schon in der Nähe des Mottos „Der neue Journalismus: Wie das Internet einen Beruf revolutioniert“. Unter diesem Leitspruch stand am Donnerstagabend in Hamburg eine Diskussionsveranstaltung, bei der auch der „Innovationsreport Journalismus: Ökonomische, medienpolitische und handwerkliche Faktoren im Wandel" (siehe Altpapier) präsentiert wurde. Ein Thema der Runde: Das Verhältnis der Journalisten zu ihren Lesern.

„Man konnte sich jahrzehntelang die Arroganz leisten, die Leser zu ignorieren",

sagte beispielsweise Stefan Plöchinger (süddeutsche.de). Peter Jebsen (AudioVideoFoto-Bild) erzählte, er habe sogar kürzlich noch ein besonderes Exemplar aus der Gattung der irgendwie noch immer Arroganten kennen gelernt, einen „nicht genannt werden wollenden“ Redakteur einer nicht unnamhaften Tageszeitung, „der Social Media als Belästigung empfindet“ und es mit Widerwillen betrachtet, dass sich in den Kommentarspalten Hinz und Kunz äußern können. Und Philip Grassmann (Freitag) konstatierte:

„Die Angst vor dem Leser ist immer noch da.“

Genauer gesagt: das Unbehagen über die Situation, „dass wir nicht nur diejenigen sind, die den Lesern was sagen, sondern die auch uns etwas sagen“. Diese Angst vor denen, „die unsere Produkte bezahlen", sei „absurd hoch, und sie ist unberechtigt“, so Grassmann. Weitere Ausschnitte aus der Debatte findet man unter #innovationsreport.

[+++] Inwiefern könnte das Internet den Beruf des Journalismus noch „revolutioniert“ haben? Diese Fragestellung tangiert auch die Soziologin Nicole Zillien am Ende eines Beitrags für diskurs.dradio.de, in dem sie vorrangig ihre These ausführt, „dass soziale Klüfte durch das Netz nicht vermindert, sondern verstärkt werden“. Zillien schreibt unter anderem:

„Statushöhere Personen verfügen eher über einen Habitus, der – denkt man in den Kategorien von Statuserhalt und Statusgewinn – die bestmögliche Nutzung des Internets umfasst. Dieses Ergebnis, das insbesondere auf die bildungsabhängige Reproduktion sozialer Ungleichheiten verweist, beinhaltet auch Aussagen zur aktuellen Relevanz des Journalismus. Eine immer wichtigere Aufgabe von (Bürger-)Journalisten besteht dann darin, die Informationen des Internetdickichts zu ordnen und zu bewerten, Wissen in größere Kontexte einzuordnen und Interpretationsspielräume strittigen Wissens nachvollziehbar zu reduzieren. Ein solches Verständnis journalistischer Aufgaben könnte (...) dazu beitragen, dass möglichst viele die Fülle, Komplexität und Konflikthaftigkeit der verfügbaren Internetinformationen in den Griff bekommen, um so im Lebensalltag von diesen zu profitieren.“

[+++] Dass es ein bisschen etwas mit dem Internet zu tun hat, dass wir es mit einer „deregulierten Kreativbranche“ zu tun haben, lässt sich wohl nicht bestreiten. Unter anderem um die „Fluchtgedanken“, Arrangierversuche und „Bewältigungsstrategien“ der Deregulierungsbetroffenen geht es in einem Artikel der Jungle World, und gleich zu Anfang lernen wir einen Journalisten kennen:

„Der Redakteur und Journalist L., der im letzten Jahr gefeuert wurde, nachdem er gegen seinen langjährigen Arbeitgeber, eine Tageszeitung, auf Festeinstellung und angemessene Bezahlung geklagt hatte, hegt seitdem eine Vision: die von einem Journalistenbüro, das nur noch Aufträge mit einem Tagessatz von mehreren hundert Euro annimmt (...). Natürlich nicht, um journalistische Leistungen zu erbringen, sondern um PR-Aufträge von jenen Institutionen zu übernehmen, über die L. zwei Jahrzehnte lang kritisch berichtet hat.“

Und noch eine Bewältigungsstrategie:

„Hannah hat ihren Abschluss vor zwei Jahren gemacht. Seitdem lässt sie sich in einem Verlag als 'Praktikantin' ausbeuten und schreibt nebenbei ihre Memoiren, ‚aber das dauert eben. Erst muss ich sie ja leben'. Und außerdem: ‚Wisst ihr überhaupt, was für ein Glück ihr habt? Ich könnte drogenabhängig sein!' Doch den Eltern geht die Geduld aus: ‚Kein Geld mehr!‘ Nun kann sie noch dreieinhalb Tage in New York überleben, schätzt sie. ‚Maximal sieben, wenn ich nichts zu Mittag esse.'“

Pardon, das war jetzt aus einem ganz anderen Artikel. So beginnt nämlich Jörg Häntzschels SZ-Medienseiten-Aufmachertext über die „brillante“ neue HBO-Serie, die schon „im Herbst auf dem Bezahlsender Glitz nach Deutschland kommt“. Zurück zum Jungle-World-Text, der mit Herrn L. beginnt. Eine andere dort erwähnte „Bewältigungsstrategie“ ist die Wutrede Sven Regeners in Sachen Urheberrecht (siehe dieses oder jenes Altpapier), und letzteres bzw. die Piratenpartei stehen dann auch im Mittelpunkt des Artikels. Das gilt auch für die aktuelle Jan-Fleischhauer-Kolumne für Spiegel Online, überschrieben mit „Legt euch doch mit Apple an!“ Oh, eine gute Überschrift! Das ist ja schon fast mehr als man von Fleischhauer verlangen kann (falls sie von ihm ist und nicht von einem anderen Redakteur). Und es gibt sogar noch eine richtige Bemerkung in dem Text:

„(Die) Kulturferne der Nerd-Welt erklärt möglicherweise, warum es dort so wenig Verständnis für die Nöte von Leuten gibt, die ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung geistiger Güter verdienen.“

Aber dann ein Klopfer, wie man ihn kennt von der unroten Socke: Die Piraten propagierten einen „Sozialismus im Netz“, schreibt er. Wohingegen die realitätsnähere Jungle World zur Diskussion stellt, ob man die Piraten nicht „neoliberale Reformer“ nennen sollte. 

Ausführlich verarztet wird Fleischhauer in Dirk von Gehlens Blog Digitale Notizen. Der Spiegel-Mann sei, „soweit ich das beurteilen kann, in seiner Kolumne ‚Der Schwarze Kanal‘ bisher nicht gerade als lösungsorientierter Autor in Erscheinung getreten.“ Dennoch sei seine aktuelle Kolumne

„zur derzeit kochenden Urheberrechtedebatte bemerkenswert. Es gelingt dem Autor nämlich, über die Dauer eines ganzen langen Kolumnentextes den Auslöser der aktuellen Urheberrechtsfragen komplett zu ignorieren“.

Für von Gehlen gehört Fleischhauer zu jenen, denen „die Piraten nun auch als willkommenes Feindbild dienen, das von gesellschaftlichen Veränderungen ablenkt, die man lieber nicht sehen will“.

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[+++] Der aktuell instruktivste Text zur Piratenpartei steht bei süddeutsche.de. Bei der wird nämlich mal wieder die „Meinungsfreiheit zum Problem“. Konkret geht um „die Geschichte des Piraten Carsten Schulz, der das Leugnen des Holocausts legalisieren möchte“:

„Für einen, der gerade sein Direktmandat verloren hat, ist Carsten Schulz überraschend fröhlich. Er sitze gerade in einem Park und lasse es sich gutgehen, sagt er am Telefon, und seine Stimme senkt sich kein bisschen, als er auf den Landesverband der Piraten in Niedersachsen zu sprechen kommt: ‚Die versuchen mit faschistischen Methoden, mich loszuwerden.‘ Für einen, der wegen Schulz gerade eine Menge Ärger hat, ist Oliver Schönemann überraschend gelassen. Er ist Pressesprecher des Landesverbandes, und wenn man ihn nach Carsten Schulz fragt, dann sagt er: ‚Mi mi mi, da ist einer beleidigt.‘

[+++] Der Skandal um die Weltwoche und ihr strafrechtlich relevant gewordenes Titelblatt (siehe, nur so zum Beispiel, Altpapier vom Donnerstag) ebbt noch nicht ab. Nun knöpft sich in der Berliner Zeitung Ulrike Simon Chefredakteur Roger Köppel vor, wobei sie auch auf die aktuelle Ausgabe eingeht:

 

„Wie uneinsichtig die (...) Blattmacher sind, demonstrieren sie mit dem neuen Weltwoche-Cover: Darauf wird die von der Unverfrorenheit der Weltwoche handelnde Debatte als ‚Roma-Debatte‘ bezeichnet, dazu die Mahnung: ‚Mit Klagen und Denkverboten ist den Missständen nicht beizukommen.‘“

Köppel war auch mal Chefredakteur bei der Welt, was die in Springer-Sachen oft gut informierte Simon zum Anlass nimmt, darauf hinzuweisen, dass er „bei Springer nicht mehr gern gesehen ist“. Dazu trage Köppels „für einen Journalisten allzu offenkundige Nähe“ zu dem „strikt europakritischen“ und „tendenziell ausländerfeindlichen" Politiker Christoph Blocher bei. Simon erwähnt auch noch, dass sich Köppel durch Kritik eigentlich immer „bestätigt“ fühlt, „so wie damals, als ein pakistanischer Student mit einem Küchenmesser bewaffnet an den Wachleuten des Springer-Konzerns vorbei zu Köppel vordringen wollte, nachdem die Welt die Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte.“

Ein Text zum Thema Köppel müsste aber noch geschrieben werden: einer, der auf Interviews mit Redakteuren von Produktionsfirmen und Sendern basiert, die für öffentlich-rechtliche Talkshows zuständig sind und den Weltwoche-Boss schon mal eingeladen haben. Was man ja gern mal wüsste: Steht der mittlerweile auf einer No-Go-Liste? Oder rangiert er vielmehr auf den Gäste-Wunschliste der Redaktionen jetzt ganz oben?


Altpapierkorb

+++ Apropos Talk: Mit beinahe schon liebevoll zu nennender Freude am Detail setzt sich Joachim Huber im Tagesspiegel damit auseinander, dass, „wo ‚Gottschalk Live‘ draufsteht“, nicht mehr „Gottschalk Live“ drin ist: „Die Sendung am 10. April mit den Gästen Bud Spencer und ‚Turn-Oma‘ Johanna Quaas war aus zwei Teilen zu einer ‚Konserve‘ zusammengerührt. Der Spencer-Talk lag schon länger vor, die für Donnerstag, 5. April, eingeladene Turn-Oma kam gar nicht vor, weil der Talk mit Gottschalk-Spezl Günther Jauch nach Meinung der Redaktion so prima lief, dass die gesamte Sendung darauf verwendet wurde. Nach dem Jauch-Auftritt schlüpfte Gottschalk wieder in das Outfit der Spencer-Aufzeichnung und führte darin das Gespräch mit Johanna Quaas – und fertig war die Nummer für den 10. April.“

+++ Die FAZ blickt schon einmal voraus auf die nächsten beiden Montage, wenn im Ersten Programm in zwei Teilen die vor rund einem Jahr im Kino gelaufene Dokumentation „Serengeti“ zu sehen ist, in der der Regisseur Reinhard Radke von der einzigartigen Tierwanderung durch das größtenteils in Tansania gelegene Serengeti-Gebiet erzählt. Das seltsam gelangweilte Fazit der Kritik: „Der Zuschauer kann eigentlich nur in den Sessel zurücksinken und seufzen: ‚Ach, wie schön!‘, und: ‚Dass es das noch gibt!‘ Für einen Montagabend vor dem Fernseher ist das nicht ganz so schlecht.“

+++ Geradezu euphorisch dagegen die andere TV-Rezension auf der heutigen FAZ-Medienseite: Die Theaterkritikerin Irene Bazinger schreibt zum neuen „Polizeiruf“-Film „Die Gurkenkönigin“: „Susanne Lothar brilliert als undurchsichtige Unternehmerin, die unter ihrem eiskalten Businesspanzer ein heißes, fast sympathisches Herz verbirgt. Gekonnt unsentimental zeigt Bernhard Schütz den verzweifelt bodenständigen Fabrikanten, der zwar König heißt, aber in Wahrheit ein Bettler ist. Klischees werden in diesem hinreißenden Film so leicht aufgebaut wie ausgehebelt, ob durch die geistreich komischen Dialoge von Wolfgang Stauch oder die famose Kameraführung von Torsten Breuer.“

+++ Siegfried Schneider, der Chef der bayerischen Medienanstalt, fordert in der Funkkorrespondenz, „die Aufsicht im Bereich Jugendmedienschutz“ in eine Hand zu legen: „Es ist sowohl unter dem Gesichtspunkt einer Gleichbehandlung als auch aus Effizienzgründen nicht nachvollziehbar, dass die Landesmedienanstalten medienrechtlich zwar für den privaten Rundfunk und für Telemedien zuständig sind, nicht jedoch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.“

+++ Mehr Medienpolitisches: Dass sich Sat 1 gerade eine neue Lizenzgebungsbehörde ausgesucht hat und sich nun in der sympathischen Medienmetropole Norderstedt beaufsichtigen lassen will (siehe Altpapier), sei erst der Anfang, erläutert Claudia Tieschky in der SZ: „Pro Sieben Sat1 will künftig offenbar auch die Aufsicht in Bremen aufwerten, indem es dort die Lizenz für den Frauensender Sixx beantragt. Damit verschiebt sich die medienpolitische Tektonik zugunsten der kleineren Länder - die die Existenz ihrer Medienanstalten dann besser rechtfertigen können.“ Was nicht zuletzt insofern von Bedeutung ist, als „um eine zentrale Medienanstalt der Länder schon seit Jahren gerungen“ werde.

+++ Die Nachdenkseiten rekapitulieren in einem Beitrag, wie ein unrichtiger Artikel der Bild-Zeitung („Hartz-IV-Sauerei! Noch nie wurde so viel geschummelt und getrickst!“) auch „von als seriös geltenden Zeitungen“ übernommen wurde.

+++ Vergleichbare Baustelle: ... Kaffee bei mir? setzt sich mit der Welt-Redakteurin Andrea Seibel, dem „Engel der Entrechteten“, auseinander. In Sachen Umgang mit vermeintlichen Schummlern hat die Springer-Frau gerade empfohlen: „Einzig empfindliche Strafen wie Leistungskürzungen bewirken Verhaltensveränderungen. Wer bedingungslos gibt, dem wird nur genommen. Mitleid allein reicht nicht.“

+++ „Deutsche Medien berichten derzeit überproportional viel über den US-Vorwahlkampf“ - darauf geht Holger Pauler in der taz ein.

+++ Mit der Mediendebatte bzw. dem schon wieder abgeebbten „Social-Media-Hype“, den kürzlich die Kampagne „Kony2012“ ausgelöst hat (siehe Altpapier), beschäftigt sich Carta. „Angeblich aufgrund“ der auf den Kriegsverbrecher Joseph Kony zielenden Kampagne seien „5.000 Soldaten von der Afrikanischen Union in Marsch gesetzt worden, die Kony endlich aufspüren und gefangen nehmen sollen. Aber wen interessiert das eigentlich noch? Und: Ist Kony vielleicht nur ein Mittel zu einem ganz anderen Zweck?

+++ Dass Wissenschaftler „Vertrauen fassen“ in Wikipedia und andere Online-Enzyklopädien, weiß Zeit Online: „Besonderes Vertrauen genießt Wikipedia bei US-Wissenschaftlern. Seit 2002 tauchte das Nachschlagewerk in knapp 4.000 ihrer Veröffentlichungen als Quelle auf.“

+++ Einen Veranstaltungstipp haben wir auch noch, und zwar für TV-historisch interessierte Hamburger: Am Sonnabend läuft im 3001-Kino Eberhard Fechners durchaus legendär zu nennende NDR-Dokumentation „Nachrede auf Klara Heyedebreck“ von 1969.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.