Lauter coole Klassentreffen

Berlin nicht mehr weit hinter dem Silicon Valley. Udo Lindenberg singt für Axel Springer (wie für Hermann Hesse), Mathias Döpfner performt casual und die Bloggerinnen auf der re:publica sehen plötzlich so schick aus. Außerdem: Hut ab vor Wolf Schneider.

Berlin bleibt einfach eine enorme Metropole. Gleich zwei tausend- bis vieltausendköpfige Medien-Parallelgesellschaften feierten sich gestern in durchaus fußläufiger Nähe als den jeweiligen Nabel ihrer Welt. Zu Zusammenstößen oder auch nur Überschneidungen scheint es nicht gekommen zu sein. Da war (und ist heute weiterhin) "das Klassentreffen des deutschen Netzvolks", "die Konferenz der Netzoptimisten", der "Kirchtag für die Netzwelt", das "Woodstock der Generation Internet", also die re:publica. Nicht auszuschließen, dass einzelne der rund 4.000 bis 5.000 Teilnehmer ihre Erlebnisse, Eindrücke und Bewertungen noch nicht digital publiziert haben, aber an Berichten herrscht alles andere als Mangel. Etwas mehr dazu weiter weiter unten.
 

Denn in der Ullstein-Halle im Axel-Springer-Hochhaus wohnten 1.000 Gäste gestern abend außerdem dem "verlagseigenen Staatsakt" zum 100. Springer-Geburtstag bei, den FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld gestern morgen (siehe Altpapier) erwartete. Und erlebten eine derart faustdicke "Geburtstagsüberraschung", dass die Presseabteilung des Springer-Konzerns vom wichtigsten Erfolgrezept seines meistverkauften Mediums abweicht und statt einer kurzen eine über 7.000 Zeichen lange Presseerklärung verschickte, der man regelrecht anmerkt, wie niemand auch nur einen Satz darin zu kürzen wagte. Der Kern der Sache:
 

"Es gab keine einzige Rede. Was geboten wurde, war kein Festakt, sondern eine 100-minütige Zeitreise durch das Leben Axel Springers: Von der Unternehmensgründung über die Erfindung der BILD-Zeitung und die Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung bis hin zur Bespitzelung des Verlegers durch die Stasi. Lebensstationen, wichtige Wegmarken, Überraschendes und Widersprüchliches, Höhepunkte und Tiefpunkte eines reichhaltigen Lebens: unterhaltsam von Schauspielern, Sängern und Tänzern dargeboten. In den Hauptrollen Herbert Knaup ('Das Leben der Anderen') als Axel Springer, Leslie Malton ('Der große Bellheim') als Friede Springer, Peter Jordan als Rudolf Augstein und Rainer Brandt als Erich Mielke..."


Anschließend wird sehr sehr ausführlich erklärt, was sich die beteiligten Künstler, allen voran Mathias Döpfer, aber auch Revue-Co-Autor Benjamin von Stuckrad-Barre, dabei jeweils gedacht hatten. Udo Lindenberg etwa, eine der populärsten deutschen Mediennutten im Sinne Harald Schmidts (um den es weiter unten hier natürlich auch geht) und schon länger Werbeträger der Bild-Zeitung, habe "wie Axel Springer immer an die deutsche Wiedervereinigung" geglaubt. Der Sänger performte im Springer-Hochhaus seinen Hit "Mädchen aus Ostberlin". [Und wer gestern das Altpapier bis zu Ende las oder gegen 21.40 Uhr ins ARD-Fernsehen zappte,  weiß, dass er dort ungefähr gleichzeitig für Hermann Hesse, der nicht vor 100 Jahren geboren, aber im Sommer vor 50 Jahren gestorben ist, ebenfalls eine Art Song sang, nämlich "The River" - immerhin nicht den Springsteen'schen].


Der Medienkonzern Springer bietet online jede Menge Bonusmaterial gratis, z.B. die Tanzkarte (PDF) und eine "Festzeitschrift zum online blättern" und bei bild.de eine Menge Widerschein. Der Vorstandsvorsitzende Döpfner sei so aufgetreten, wie man ihn auch kaum kennt, "in lässigem Freizeit-Look" und "ironisch" (Springer-Pressemitteilung). "Er spielte sich selbst - und wie er einen Brief an den Verlagsgründer schreibt, den er selbst nie kennengelernt hatte", und in dem u.a. steht:

"Bewundert habe ich Sie vor allem für Ihre Kraft, mit den Anfeindungen Ihrer Zeit zu leben, mit einem Hass, wie ihn wohl kein anderer Deutscher nach dem Krieg erlebt hat. Sie waren in den 60er- und 70er-Jahren der Anti-Zeitgeist schlechthin. Freiheit, Antikommunismus, Wiedervereinigung, Marktwirtschaft, die Unterstützung Israels und Amerikas – schlimmer ging’s nimmer... "


Für die eher seriöse Springer-Zeitung Die Welt hat Lucas Wiegelmann die schwere Aufgabe übernommen, den Anschein journalistischerer Berichterstattung über das Ereignis zu erwecken ("Statt artiger Grußworte eine coole Nummern-Revue"). Falls sich jemand mit online frischem Textmaterial aus wirklich unabhängigerer Quelle ein Bild von Springers Lebenswerk machen möchte, so stünde inzwischen die gestern erschienene Buch-/ Film-/ Vita-Besprechung der DuMont-Presse zur Verfügung.
 

Und falls sich jemand fragt, ob denn irgendjemand ausdrücklich nicht vollinhaltlich in den großen Springer-Jubel einstimmen wollte, so hat die Süddeutsche eine Info: Wolf Schneider, "der große Journalist und noch größere Journalistenlehrer" und kürzlich in die Kritik geraten (siehe Altpapier), verdient es doch, dass man den Hut vor ihm zieht.
 

[+++] Damit zur #rp12. Es ist natürlich schlechterdings unmöglich, in einem sequentiellen Text zusammenzufassen, was auf dieser irre vielschichtigen Veranstaltung alles gleichzeitig abgeht. Aber man kann etwa den Eröffnungsvortrag als Aufhänger nehmen, zumal wenn Eröffnungsredner Eben Moglen auf der so ostentativ optimistischen "Konferenz der Netzoptimisten" (zeit.de), dem "Klassentreffen des deutschen Netzvolks" (SPON) einen dezidiert pessimistischen Vortrag hält. Hier sind Moglens Thesen im englischsprachigen Videointerview zu haben. Kai Biermann fasst sie auf zeit.de so zusammen:


"... Amazon beispielsweise sei letztlich nicht anderes, als hätte der frühere sowjetische Geheimdienst KGB Bibliotheken betrieben, um jeden Leser zu überwachen. Mehr noch, wer versuche, anonymes Lesen möglich zu machen, der werde von Regierungen bedroht und verfolgt. Als Beispiel nennt Moglen Phil Zimmermann, den Erfinder des Mailverschlüsselungssystems PGP. Dabei sei die Möglichkeit, sich anonym und unerkannt über jeden denkbaren Sachverhalt informieren zu können, bislang eine der Bedingungen von Freiheit gewesen, so Moglen. Wir hätten Hunderte Jahre lang gekämpft, 'um den Raum in unserem Kopf zu beherrschen und unabhängig denken zu können'. Jetzt verlören wir diese Hoheit wieder...".


Man kann aber auch, wie es Christian Stöcker im SPON-Artikel ebenfalls tut, anhand der standortpolitischen Schlüsselwörter aus weiteren Eröffnungsreden, die Staatssekretäre und Elmar Giglinger, der eigentlich "vor-digitale"Chef des Berlin-Brandenburger Medienbords, hielten, Bullshitbingo spielen. Muss man aber selbstredend nicht, man kann aus einer der zahllosen Diskussionen auch Podiumsdiskutanten zitieren, die offenbar völlig ernsthaft "nicht viel mehr zu sagen" hatten, "als dass Berlin eine echt coole Stadt für Internet-Startups sei" (FAZ, die eingangs vom "Woodstock der Generation Internet" spricht, aber nur uneigentlich). "Aber keiner auf dem Podium sieht Berlin noch weit hinter dem Silicon Valley", würde der Tagesspiegel , dem der Standort umso mehr am Herzen liegt, sogar sagen.


Bei all diesen und noch viel mehr widerstrebenden Eindrücken insofern kein Wunder, wenn Berichterstatter sich auf reinste Äußerlichkeiten beschränken, die "grünen Haarschöpfe " und "Hipster-T-Shirts", die SPON-Mann Stöcker auf den Fluren noch auffielen, ausblenden, und einfach gerne beobachten, dass die immer besser gekleideten Besucherinnen des "Trendevents" inzwischen eher "wie die klassische Glamour-Leserin" aussähen als wie Bloggerinnen "aus der Bohème der ersten Jahre": "Auch Spiegel Online-Chefin Katharina Borchert schlägt am ersten Tag der re:publica im schicken Kleid auf", weiß der ja auch fesch ausschauende meedia.de-Trendscout Nils Jacobsen zu berichten.


Und das am selben Tag, an dem Mathias Döpfner in derselben Metropole mit lässigem Freizeit-Look verblüffte. Irre!


Altpapierkorb

+++ MUSS man denn unbedingt zur re:publica? Na ja: "Wirklich echt elitär ist ja nur die Net-Gemeinde. Also alle, die NET auf der #rp12 sind. Hallöle zusammen!" +++

+++ Die wortreichste unter vielen Harald-Schmidt-Analysen des Tages stammt natürlich von Matthias Kalle (Tagesspiegel). Um den breiten Mittelteil ("... Warum haben wir ihm zugeschaut? Weil er mir und vielen meiner Generation zeigte, was Fernsehen auch sein kann: Chaos, Punkrock, Kindergeburtstag; dreckig, böse, gemein... ... Schmidt hat das Fernsehen in Deutschland nicht nur revolutioniert – er hat ihm auch seine Unschuld genommen. Schmidt war der Feind, er gehörte nicht in die deutschen Wohnzimmer... ") wirklich goutieren zu können, sollte man vermutlich in der Midlife-Crisis stecken. Gegen Ende des Textes gibt's auch Sätze, die auch in weniger melancholischen Gemütsverfassungen relevant sein könnten: "Das Free-TV von ARD über Sat 1 bis zum ZDF will den Zuschauern nichts mehr zumuten, es will sie nicht überfordern, es geht wieder den Weg des geringsten Widerstands so wie damals, bevor Thomas Gottschalk und Harald Schmidt angetreten sind, um dieses Medium zu verändern. Die Botschaft des Fernsehens lautet daher auch: Wir geben uns mit dem Mittelmaß zufrieden..." Dieses Fernsehen grüße Schmidt als künftiger Sky-Star "mit dem Mittelfinger". +++

+++ Anlass aller Schmidt-Analysen: Der Entertainer sendet heute letztmals auf Sat.1 und wechselt nach der Sommerpause als "Late Night König" (Sky) zu Sky ins Pay-TV, bzw. als "Marken-Aufhübscher" (SPON), als "Imagefaktor", aber ein valider, meint Michael Hanfeld in der FAZ (S. 31, online ähnlich): "Über ein Sky-Abo nachzudenken, gibt es jetzt jedenfalls einen Grund mehr". Als "Aushängeschild" würde Hans Hoff (Süddeutsche) sagen: Schmidt "präsentiert sich dabei wieder in just jener cremigen Seitenwechslerrolle, für die er sich einst selbst die wenig charmante Bezeichnung 'Mediennutte' verlieh". +++ "Schmidt bald noch privater" (TAZ). +++ "Exklusiv kann auch unsichtbar heißen" (Tsp.). +++ "Fernsehen in Deutschland ist inzwischen zur Sache von Bürokratien und Hierarchien geworden, von vier Senderfamilien (zwei mit Politikern in den Aufsichtsgremien, zwei ohne), die erst einmal die Zuständigkeiten klären müssen, bevor es losgehen kann. Die richtige Pflege von Programmen kommt dabei oft zu kurz", insofern könnte Skys Strategie aufgehen, kommentiert Hans-Jürgen Jakobs im SZ-Wirtschaftsressort. +++
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+++ Mehr Mittelmaß: "Eine sehr mittelmäßige Sendung: mittelmäßig lustig, mittelmäßig politisch, mittelmäßig spannend" sei die neue "Ich kann Kanzler"-Version im ZDF, meint Oliver Jungen bei faz.net. Aber sehenswert, "weil sie vorführte, in welcher Rolle sich das Fernsehen im politischen Prozess immer noch sieht, selbst wenn die Fundamente längst wackeln". "Diese Show war ungefähr so spannend wie die Bundestagswahl 2009, gähn" (Nico Fried, Süddeutsche). +++

+++ Mehr Murdoch: "Für einen 81-Jährigen sieht Rupert Murdoch fit aus. Verdammt fit sogar. Um so mehr dürfte ihn das Verdikt des Ausschusses für Kultur, Medien und Sport des britischen Parlaments treffen, er sei 'not a fit person to run an major international company'..." (Steffen Grimberg in der TAZ über die Lage des Moguls im Nicht-mehr-NotW- aber noch BSkyB-Land England. +++ Siehe auch KSTA. +++

+++ "Ich habe mich dazu entschieden, die ARD auf Schadensersatz zu verklagen. Deren Reporter Hajo Seppelt hat mich in der Sportschau öffentlich denunziert", schreibt Eisschnellläuferin Claudia Pechstein auf ihrer Webseite. Siehe auch meedia.de. +++

+++ "Schwarze Plastikfetzen hängen am Zaun. Tauben graben im Dreck. Ein ständiges Rascheln und Gurren und Hundebellen stört die Stille. Es riecht verfault. Dann regnet es, Dampfwolken stehen über den Abfallhaufen": die letzten Sätze des TAZ-Reportage über einen von der schweizerischen Weltwoche (siehe Altpapier) inspirierten Besuch im Kosovo. +++

+++ "... Das Tierblut sammelte sich auf dem Boden, noch am nächsten Morgen waren die Scheiben rot verschmiert. Auch auf dem Briefkasten lagen Innereien. 'Lügenpresse halt die Fresse', hatte jemand auf die Scheiben der Redaktion geschmiert...": Das ist wiederum die Region Berlin/ Brandenburg. Die Süddeutsche berichtet über eine Neonazi-Attacke auf die Redaktion der Lausitzer Rundschau in Spremberg. +++ "Die 'Rundschau' ist bekannt dafür, dass Ihre Autoren den Finger in die schmutzige Wunde des Rechtsextremismus legen. Vor gar nicht langer Zeit berichtete das Medienhaus zum Beispiel über die Unterwanderung von Sportvereinen durch Neonazis, was augenblicklich zu einer erhöhten Wachsamkeit in den Vereinen führte. Auch die Berichte über den Spremberger Aufmarsch haben den Verfassungsfeinden offenkundig nicht gefallen. Doch wer glaubt, die Redaktion der 'Rundschau' ließe sich von dummen Sprüchen oder ekligen Abfällen abschrecken, ist schief gewickelt...", kommentiert Chefredakteur Johannes M. Fischer. +++


Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.