Wieder jede Menge Kritik im Netz: an Joachim Gauck und, seit dem Selbstverstümmelungs-Vorwurf, an der ARD. Außerdem: Talkshow-Gästedatenbank geleakt? "Gottschalk Live" wird weiter gerettet.
Recht weit oben online bzw. vorn in den Zeitungen tut heute jedes anständige allgemein interessieren wollende Medium seine Pflicht und fährt auf dem Zug mit, zu untersuchen, was "das Netz" (Quelle: Internet) über das mutmaßliche künftige Staatsoberhaupt Joachim Gauck so sagt. Nur zum Bsp. Tsp., nur zum Bsp. Welt kompakt.
Wir empfehlen dazu aus dem Netz Sascha Lobos Zitatkaskade-Analyse bei SPON (sowie weiterhin karlshochschule.de), und aus der im Netz zugänglichen gedruckten Presse Stefan Reinecke. In der TAZ schreibt der:
"Die bemerkenswerte Verwandlung eines norddeutschen Pastors zum allseits bestaunten Volkstribun" - bzw. eines "72-Jährigen in ein Heiligenbildchen", wie es im Satz davor heißt - "hat der Springer-Verlag mit allen Mitteln des Kampagnenjournalismus unterstützt. Aber jede Kampagne braucht auch einen Resonanzraum, ein Bedürfnis, das gestillt wird".
Insofern wäre es ganz ohne Gauck nicht gegangen, und so, wie es ging, war es zumindest nicht die schlimmste Variante. Denn
"es ist leicht, sich über diese Sehnsucht nach der Fusion von alternativ und kuscheligem Mainstream zu mokieren. Wahrscheinlich zu leicht. Anderswo in Europa, in Österreich und Holland, in der Schweiz und Belgien, speisen sich aus ähnlichen Quellen die Erfolge der Rechtspopulisten. In Deutschland kanalisieren sich die Unzufriedenheiten mit dem politischen Betrieb anders: netter, ziviler, weniger ressentimenthaft. Die Gauck-Euphorie entspricht genau diesem Muster des bundesdeutschen Populismus."
[+++] Damit ins im engere Sinne mediale Geschehen. Die ARD hat es einerseits sowieso nicht leicht in ihren über Jahrzehnte gewachsenen, Medienbeobachtern bestens oder bis zum Überdruss bekannten Strukturen. Andererseits könnte sie eine Art Gauck-Effekt erleben. Im Moment schwingt das Pendel der Sympathie, der sie sich "im Netz" zumindest insofern erfreute, als dass sie halt Gegner der Verlage-Klage gegen die "Tagesschau"-App war, zurück, seitdem mal wieder eine Stefan-Niggemeier-Formulierung, die von der "vorauseilenden Selbstverstümmelung" weit um sich greift. Selbst Michael Konken, als Vorsitzender der Journalistengewerkschaft DJV einer der großen Mahner, Warner und Empörer des deutschen Journalismus, hat sie sich anverwandelt ("Online-Journalismus nicht amputieren").
"Selbstamputation von ARD und ZDF auf gutem Weg", lautet die conclusio von netzpolitik.org. Über den Ausgang des damit gemeinten gestrigen Treffens von ARD-Vertretern (sowie des ZDF-Intendanten Markus Schächter) mit Vertretern der Verlagswirtschaft "ausgerechnet in Köln" im Karneval, rätselt am heutigen Aschermittwoch die Süddeutsche:
"Hat Monika Piel also dem nach außen getragenen Druck ihrer Redaktionen standgehalten? Möglich. Denkbar ist aber auch, dass der Kompromiss ohnehin weniger weit geht, als das bisher verstanden wurde (...) Verleger und Intendanten sollen in den vergangenen Wochen darüber gesprochen haben, zwar jeweils auch Abstriche bei Text oder Bewegtbild zu machen, vor allem aber die Anmutung zu überarbeiten, so dass die derzeit sehr ähnlichen TV- und Verlagsangebote sich optisch stärker unterscheiden. Das wäre ein kosmetischer Kompromiss."
[+++] Im Netz selbst wird die WDR-Intendantin und derzeitige ARD-Vorsitzende inzwischen heftig angegangen. "Die größte ARD-Anstalt verliert unter der Ägide ihrer Intendantin Monika Piel (Jahresgehalt 2009: 308.000 Euro) immer mehr an Anspruch und journalistischem Profil", schreibt Erika Fuchs auf den Nachdenkseiten (die übrigens auch bei der Kritik Gaucks als Springer-Schützling vorn dabei sind) und beklagt mit Zitaten aus senderinternen Anweisungen die Verflachung der WDR-Radioprogramme. Selbst ein Klassiker der anonymen Vorgesetzten-Kritik, "Der Fisch stinkt vom Kopf her", kommt hier zu Ehren.
Noch viel grundsätzlichere Kritik an der ARD (und, auch wenngleich weniger prominent erwähnt, am ZDF) gibt es bei Telepolis. Dort ärgert Bettina Hammer sich vor allem über die Aufforderung der "Deutschen Content Allianz" (inklusive der ARD und also Piels) an die Bundesregierung, das ACTA-Abkommen zu unterzeichnen:
"ARD und ZDF haben sich beim Thema ACTA bereits eindeutig positioniert und können insofern logischerweise keine neutrale Information mehr bieten",
das sei ein "Kardinalsfehler" der von ARD und ZDF so vielfach reklamierten Berichterstattungs-Qualitäten. Hammer kritisiert, dass Themen "erst dann aufgegriffen werden, wenn sie bereits in anderen Medien als wahlweise 'interessant', 'hot' oder 'relevant' gelten", sowie (allerdings mit einem Beispiel aus dem Jahre 2007) die "Catch 22-Logik", nach der sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen "Experten tummeln". Dass erstgenannter Kritikpunkt in den wie immer zahlreichen Kommentaren auch zurechtgerückt wird, spricht für die Diskussionskultur bei Telepolis.
[+++] Damit zurück in die klassischen Medien, deren Medienseiten klassischere Kritik an der ARD und ihren Strukturen gern neu aufgreifen. Da wäre einerseits die Talkshow-Flut. Die gewöhnlich gut unterrichtete Ulrike Simon (Berliner Zeitung) weiß von "einer Art Gipfeltreffen" von "Vertretern aller fünf ARD-Talkshows" heute in München beim ARD-Chefredakteur Thomas Baumann. Der ist ja überdies, auch wenn Fernsehverbraucher kaum glauben, dass es diesen Posten gibt, Talk-Koordinator. Simon scheint gar die Talkshow-Gästedatenbank der ARD ("1Talk5") geleakt oder zumindest Einblick bekommen zu haben, und plaudert also aus diesem Nähkästchen:
"... Stattdessen trug Wills Redaktion für den Rest des Februars gleich bei drei Sendungen hintereinander Alzheimer als Thema ein, und zwar mit dem einzigen, wenngleich unterschiedlich geschriebenen Rudi Assauer, Rudolf Assauer und Rudolf 'Rudi' Assauer. ..."
[listbox:title=Artikel des Tages[Lobos Zitatkaskade-Analyse (SPON)##Reineckes Gauck-Erfolgs-Analyse (TAZ)##Piel/ WDR-Kritik (nachdenkseiten.de)##Allgemeine ARD/ ZDF-Kritik (Telepolis)##Talkshow-Krisengipfel (BLZ)##Breloer-Würdigung (epd medien)]]
[+++] Ein anderer Standard der klassischen ARD-Kritik sind die "Gottschalk Live"-Einschaltquoten. Auch wenn die Bavaria-Produktion (Tochterfirma des WDR und anderer öffentlich-rechtlicher Anstalten) bereits auf die Absetzung spekuliert, soll erst mal weiter gerettet werden. Und zwar von Markus Peichl, meldet die Süddeutsche.
Für jüngere Medienbeobachter: "Peichl, ein Österreicher, war Redaktionsleiter der ARD-Talkshow 'Beckmann' und 1985 einer der Tempo-Gründer". Was hatte er eigentlich zuletzt gemacht? "Bei seinem bislang letzten Print-Projekt, Liebling (2007/2008), hatte er weniger Fortune."
[+++] Immerhin kam Gottschalk gestern abend mal wieder im ZDF-Abendprogramm zu Ehren:
"In den letzten drei Wochen haben mehr Leute den Yeti gesehen als Gottschalk. Und dessen Höhle war bestimmt besser eingerichtet."
Der ARD-Werberahmen-Star war neben Christian Wulff, Markus Lanz und Heidi Klum ein weiteres Witzobjekt der neuen ZDF-Kabarettistin Monika Gruber. Eine Frühkritik zur Premiere ihrer Show "Leute Leute" (hier online; vgl.Screenshot oben) bietet die DuMont-Presse online. "Gute Boulevardsatire ohne Schonwaschprogramm!", ist Daniela Zinser ganz begeistert.
Vorausgesetzt, dass Boulevardsatire etwas völlig anderes ist als Boulevard-Satire, ungefähr das Gegenteil, würden wir zustimmen.
Altpapierkorb
+++ Es zählt wohl nicht zu den zehn irrsten Wendungen der CDU-Politik der letzten Zeit, sei aber ein "genialer Coup!", meint die (eigentlich ja selten schreibende) TAZ-Chefredakteurin Ines Pohlzu der Wendung, dass ausgerechnet Kristina Schröder von der CDU "den Wachturm des Feminismus", Alice Schwarzers "Frauenmedienturm" (auch: "FrauenMedienTurm", korrekt: Frauenmediaturm) mit Subventionen rettet. +++
+++ Nicht, dass die wieder aufkommende Öffentlich-Rechtlichen-Kritik als Lob des Privatfernsehens zu verstehen sei. Auf der Medienseite der Süddeutschen beschreibt Hans Hoff den RTL-"Bachelor" bzw. "'Bett-Schäler', wie er gerne in Straßenumfragen ausgesprochen wird", als "Unterwerfungsfernsehen à la RTL": "Bedingungslose Unterwerfung ist inzwischen die Regel. Gehorche, gib Körper, gib Seele, erhalte Fernsehpräsenz". +++ Und Claudia Tieschky berichtet von Überlegungen der Medienwächter, einen "zusätzlichen Paragraphen (20c) im Rundfunkstaatsvertrag" einzuführen und die Privatsender durch Anreize zu Qualität zu ermuntern: "Sie diskutieren ... darüber, wie man Qualität in den Nachrichtenredaktionen der Republik messen und bemessen kann. Der Kriterienkatalog, den man aufstellte und der ein neues Zwei-Klassen-System im Kommerzfernsehen begründen könnte, ist bemerkenswert. Denn er enthält schlicht vieles, was in besseren Zeiten einmal vollkommen selbstverständlich als Qualitätswert galt, aber dem Kostendruck geopfert wurde." +++
+++ Den Onlinejournalismus der Zukunft könnten Algorithmen generieren. Oder "komponieren", wie es Kris Hammond, technischer Leiter von Narrative Science in Chicago lieber nennt. Fridtjof Küchemann suchte das Unternehmen, das solche Journalisten-einsparenden Algorithmen generiert, für die FAZ auf (zitiert aber auch aus diesem NYT-Artikel darüber). +++ Indes lancieren "junge Franzosen neue erotische Zeitschriften": Einen Artikel darüber, also über "Edwarda" und "L’imparfaite", von Olivier Guez hat die FAZ aus dem Französischen übersetzt. +++ Indes, einen jungen Chinesen, "Han Han, 29, der wohl meistgelesene Blogger der Welt", nennt die TAZ wegen Plagiatsvorwürfen per Überschrift "Guttenberg in Schanghai". +++
+++ "Mit seinem zurückhaltend-seriösem Auftritt hätte er jederzeit als Entsandter von SZ oder FAZ durchgehen können", lobt meedia.de Nikolaus Blome als "Gewinner der Wulff-Affäre". +++
+++ Neues von der Fußball-Fernsehrechte-Front steht heute in manchen Zeitungsrandspalten, u.a. im Tsp., und geht auf die FTD gestern zurück. +++
+++ "Frau #Burmester muss die Zeitung gar nicht lesen, um zu wissen, was drin steht. Das soll mal einer nachmachen", twitterte Springer-Mann Frank Schmiechen. Womöglich liest Silke Burmester online. Wer wissen will, was heute bei ihr drinsteht (u.a. über "Georg Dietz"), muss hier lesen. +++
+++ Das ehrt Das Erste: dass es "am Donnerstag live die Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt" überträgt. Nicht um 20.15 Uhr, aber um 10.15 Uhr (Tsp.). +++ Und an die relativ gute alte Zeit beim WDR, als Heinrich Breloer, nachdem er beim NDR mit seinem "Beil von Wandsbek"-Projekt auf Ablehnung gestoßen war und in Köln aufgenommen wurde, erinnert Fritz Wolfs epd medien-Würdigung des kürzlich 70 gewordenen Fernsehfilmemachers. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.