Aktuelle Elefantenstunden

In München wurden mit beherztem "Ach je" die aktuellen Medientage o'zapft. In Berlin wurde im Bundestag vor "Piraten und Chaoten" respektive Trojanern gewarnt.

Die aktuelle Aktuelle Stunde, die gestern im Deutschen Bundestag zum Thema Staatstrojaner und Online-Durchsuchungen stattfand, lief und läuft in den herkömmlichen aktuellen Mainstream-Medien eher unter ferner liefen. Wenn schon vor Trojanern gewarnt wird, dann vor dem ganz neuen, der die "Anlagen der Industrie" ausspäht (FAZ, S. 1), Duqu heißt und in der SZ (S. 5) als "kleiner Bruder von Stuxnet" auch per Infografik erklärt wird (online ähnlich, aber ohne Grafik).

Aber in der netzpolitischen Community, einer der aktivsten und viralsten jener Nischen, in die die Gesellschaft der Digitalära zerfällt, da hat die gestrige Debatte breite Wellen geschlagen. Und Hans-Peter Uhl  (CSU) mit seinem fünfminütigen Redebeitrag zum Youtube-Star gemacht. Tatsächlich sehens- bzw. hörenswert, der u.a. von netzpolitik.org ("Büttenrede") und Dirk von Gehlen weiterverbreitete Beitrag. Uhl warnt nicht nur davor, wie das Internet "sich dramatisch weiterentwickelt" ("Die Computer der Kriminellen werden immer ausgetüftelter"), und davor, dass das Land bald "von Piraten und Chaoten regiert" werden könnte, sondern bezichtigt auch (ohne ihn namentlich zu nennen) den FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher des Schwadronierens (wegen des Leitartikels, der gestern auf S. 1 "politischen Kontrollverlust angesichts komplexer technologischer Systeme in Echtzeit" konstatierte).

Was ansonsten gestern von Amtsträgern gesagt wurde, schildert sehr sachlich Stefan Krempl bei heise.de. "Sowohl das Innen- als auch das Finanzministerium haben nun zugegeben, dass sie keine Kontrolle über ihre Überwachungsinstrumente mehr haben", auch wenn sie just das Gegenteil behaupteten: Diese Schlussfolgerung arbeitet zeit.de anhand des Unterschieds zwischen dem Maschinencode und dem Quellcode auch aus den neuen offiziellen Auskünften heraus. Aus denen Regierung und SPD-Opposition einträchtig ableiteten, dass staatliche Stellen künftig die Trojaner doch lieber selber bauen müssten (SZ, FAZ, die auch den Staatssekretär Ole Schröder mit dem Rat zitiert, "Beamten bei der Nutzung der Informationstechnologie genau das Vertrauen entgegenzubringen, das sie beim Führen ihrer Waffen genießen").

Populärer getalkt wurde gestern in großer Runde in München. Die traditionelle Elefantenrunde zur Eröffnung der Medientage, die sich weiterhin als "Europas größten - und 'Deutschlands wichtigsten Medienkongress'" sehen (TAZ), wurde erstmals statt von Helmut Markwort von Wirtschaftswoche-Chefredakteur Roland Tichy geleitet. Bei der Resonanz fällt auf, dass Onlinemedienmedien vergleichsweise milde urteilen, während die vor allem für die Papierpresse arbeitenden Kollegen umso heftiger draufhauen.

"Medien-Elefanten sind auch nur Menschen", schreibt Stefan Winterbauer bei meedia.de und teilt mit, dass es "behäbig" zuging, ja mei. Selbstverständlich verbreitetet meedia.de Topzitate der Veranstaltung als eigenen Beitrag. Einen "Hauch von Resignation" vermeinten die Seismografen von dwdl.de zu verspüren und lassen ihre Zusammenfassung im Jürgen Doetz-Brüller "Vielleicht übernachten wir lieber in einem Zelt vor dem Kanzleramt. Da bekommt man anscheinend mehr Aufmerksamkeit als wenn wir hier diskutieren" kulminieren.

Und auf kress.de bescheinigt Rupert Sommer nicht nur Moderator Tichy eine "souveräne" Leistung, sondern allen Ernstes auch noch dem BR-Intendanten Ulrich Wilhelm, "auch heiße Eisen anzufassen", weil dieser ein bisserl Distanz zu all den vielen Talkshows der ARD erkennen ließ, beinahe so, als ob das in schön unverbindlicher Form nicht jeder ARD-Vertreter auf jedem Podium dieses Jahres täte. Aber, kress.de ist halt "offizieller Medienpartner" der Veranstaltung.

[listbox:title=Artikel des Tages[Uhl übers Internet (Youtube)##TAZ über die Medientage##Medienfreiheit in der Türkei (Tsp.)## Gefangene Reporter in Äthiopien (BLZ)]]

Wohltuend anders fällt da die Berichterstattung der, zumindest mediengenerationell betrachtet, alten Hasen der Holzpresse aus. "Ach je!/ Zum Start: Selbstmitleid bei den Münchner Medientagen", lautet die Überschrift über Katharina Riehls Bericht in der Süddeutschen (S. 19). Der von Tichy erhoffte "Lehrstunden"-Charakter der Diskussionsshow erschöpfe sich "wie immer in den zurückliegenden Jahren darin, wie Intendanten, Geschäftsführer und andere Medienmanager sich gegenseitig langweilen". "Diese Runde braucht niemand mehr", heißt es dort.

"Sie diskutieren noch Jahre/ Horst Seehofer schwänzt die Münchner Medientage", so die Überschrift in der FAZ (S. 33), in der Henning Peitsmeier also u.v.a. moniert, dass die Abwesenheit des amtierenden bayerischen Ministerpräsidenten genau jenes Desinteresse an Medienpolitik dokumentiere, dass der frühere bayerische Ministerpräsident und aktuelle Pro Sieben-Lobbyist Edmund Stoiber gerade (siehe Altpapier gestern, Altpapierkorb unten) beklagte.

In der TAZ weiß Steffen Grimberg erstens, dass Seehofer "nach Berlin" musste, "Euro retten" - das ist ja doch ähnlich wichtig wie über Medien reden - und weist zweitens daraufhin, dass all die Klagen, die also auch 2011 anlässlich der Münchner Medientage wieder über die Münchner Medientage und ihre Eröffnungsshow kamen, streng genommen nicht mehr hätten kommen müssen, weil eben Stoiber sie schon vorweggenommen wurden. Ein Fuchs des Agendasettings ist Stoiber zumindest.

Und für die vielleicht allerwichtigste Info zur Elefantenrunde schalten wir rasch (bevor's im Altpapierkorb mit Stoiber weitergeht) tief ins schwäbische Bayern. "Drei Stunden dauerte die Übertragung im Bayerischen Fernsehen" seufzt Rupert Huber in der Augsburger Allgemeinen in einem Ton, als hätte er sich das tatsächlich solange auch angeschaut.


Altpapierkorb

+++ Was jetzt "Stoibers Agenda" betrifft: Dazu steht eine nicht lange, aber große Michael-Hanfeld-Analyse in der FAZ (derzeit nicht frei online). In der Sache habe Stoiber sicher in manchen Punkten recht, schreibt er (wie gestern Hans-Jürgen Jakobs in der SZ). Aber: Bis September 2011 saß Stoiber im Verwaltungsrat des ZDF und war dort "wahrlich nicht untätig. Er war der spin doctor der Konservativen, die den früheren Chefredakteur Nikolaus Brender aus dem Haus jagten. Sein Kollege aus Hessen, Roland Koch, betrieb das Geschäft ganz offen und bezog dafür reichlich Prügel, Stoiber zog die Fäden im Hintergrund und hielt sich bedeckt. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie", wenn Stoiber nun das medienpolitische Desinteresse der Parteien beklage: "Das Gegenteil ist der Fall, nur interpretieren die Länderchefs diese Priorität allein in ihrem Sinne - das Postengeschacher in den Sendern ist ihre liebste Übung...", argumentiert Hanfeld. Und empfiehlt ein Kamingespräch zwischen Stoiber und Kurt Beck. "Denn bei Kamingesprächen wird in Deutschland Medienpolitik gemacht, seit es das duale Rundfunksystem gibt." +++

+++ In der Süddeutschen analsiert Christopher Keil die Lage von Sat.1 unter der Überschrift "Erstaunlich einstellig": Wenn "drei so unterschiedliche Typen" wie Johannes B. Kerner, Oliver Pocher und Harald Schmidt langfristige viel schlechtere Quoten haben, als bei ihrem teuren Einkauf erwartet wurde, "fällt der Misserfolg auch aufs System zurück, und das System ist bestimmt vom Dividendendruck der Shareholder". Einst in den 90ern sei Sat.1 "für eine Weile ein in sich homogenes, aufeinander abgestimmtes, vielseitiges kommerzielles Vollprogramm" gewesen. "Mit Verzögerung wird klar, dass sich Sat 1 - pauschal formuliert - 2011 in erster Linie um die wichtigsten Werbekunden kümmert." +++

+++ "Die Presse wird eingeschüchtert. Journalisten wagen kaum, kritische Fragen an Ministerpräsident Tayyip Erdogan zu stellen... ", "viele Kollegen wagen nicht, in privaten Telefongesprächen die Regierung zu kritisieren. Sie denken, dass sie abgehört werden...: Das sagt Journalistin Banu Güven, die für den türkischen Nachrichtensender NTV nicht mehr arbeitet, im Tagesspiegel-Interview über die Medienfreiheit in der Türkei. +++ Zu ca. 200 Gefangenen in einer Zelle "in Addis Abebas berüchtigtem Kaliti-Gefängnis" gehören Martin Schibbye und Johan Persson aus Schweden, die heimlich einreisten, weil sie über die Rolle, die eine schwedische Firma "bei der Ausbeutung der Ölschätze in der ärmsten Provinz des Landes", Ogaden, spielt, recherchieren wollten (Berliner Zeitung). +++ "Nach einem Tag Einarbeitungszeit könnten Sie wahrscheinlich damit anfangen": Mit dieser Auskunft wird in Großbritannien nach Mitarbeitern, die für Internet-Provider Listen bedenklicher Internet-Inhalte anlegen sollen, gesucht (ebd.). +++ In Berlin-Zehlendorf "fast zu Tode geprügelt": der 48-Jährige Radiomann Stephan Hampe (auch BLZ). +++

+++ "Gebt ihnen ein Handy, aber erst, wenn sie vierzehn sind. Ansonsten sorgt dafür, dass Kinder kein iSpielzeug in die Hände bekommen, sonst landen sie im elektronischen Fegefeuer": Digitalpädagogik von David Gelernter bildet heute den Aufmacher des FAZ-Feuilletons. +++ Er "war das, was man landläufig als Genie bezeichnet": der Friedrich-Kittler-Nachruf der Zeit steht bereits frei online. +++ Viiiel mehr Kittler-Nachrufe (und ein Youtube-Video) bei perlentaucher.de gestern. +++

+++ Heute im Fernsehen: Oliver Assayas' Kinofernsehfilm "Carlos" über den Terroristen. "Ein tolles Werk mit etwas zu viel Vertrauen in die Männlichkeit eines berühmten Bösewichts" (TAZ). +++ Aber es "lohnt sich - sehr" (Tsp.). +++

+++ Nicht mehr neu im Fernsehen, weil nicht fortgesetzt: die RTL-Serie "Doctor's Diary". Nicht etwa wegen mangelnden Erfolgs, "Grund seien die vielen anderen Verpflichtungen der Serienbeteiligten", meldet u.v.a. der Tagesspiegel. +++ Was für Verpflichtungen denn? Etwas nach hakt erneut Michael Hanfeld in der FAZ: Diana Amft war "bei der ARD ... zuletzt in der Serie 'Der Bulle und das Landei' zu sehen. Ihr Mitspieler Florian David Fitz wirkte in zwei Kinofilmen mit." +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.