Handys abgeben bzw. ausschalten!

Julian Assange performte vor Lilien und Trauben via Satellit auf der Berliner "Medienwoche". Bernd Hilder reiste im Zug von Leipzig nach Bonn und war nicht zu sprechen.

Vielleicht ein Trend: Wer den ganz großen Stars oder Charismatikern live oder quasi-live nahekommen möchte, muss sein Handy abgeben oder wenigstens ausschalten. Das ist bei Günther Jauch so, wie die Berliner Zeitung gestern mit einem (hier durchgerutschten) kleinen Scoop bewies, indem sie nämlich der Showprobe für die am Sonntag startende Talkshow beiwohnte:

"Wer 'Günther Jauch' sehen will, muss sich zuvor erst einmal sämtlicher Besitztümer entledigen, fast wie am Flughafen. 'Ihren Personalausweis können Sie selbstverständlich mit reinnehmen', sagt die Frau an der Zwangsgarderobe. Und der Sicherheitstyp mit dem Metalldetektor fragt mürrisch: 'Haben Sie Ihr Handy schon abgegeben?'"

Bei Julian Assange mussten Handys zwar nicht abgegeben, aber ausgeschaltet werden. Während seines gestrigen Stargast-Auftritts auf der Berliner Medienwoche, für den er aus den bekannten Gründen seines Hausarrests auf dem englischen Landsitz Ellingham Hall via Satellit zugeschaltet wurde, waren Foto-, Video- und Audioaufnahmen verboten. Doch wer, wenn nicht die Anhänger von Leakern, würde so etwas leaken. Insofern wurde schon während der Veranstaltung am Vormittag getwittert (die Tweets von Daniel Bröckerhoff, die den besten Live-Widerschein boten, sind auch im Nachhinein lesenswert; hier ein verbotenes Foto von netzpolitik.org).

Andererseits, im Nachhinein wurde alles auch nicht mehr so eng gesehen. Seit dem späteren Dienstag gibt es zumindest Assanges Soloauftritt, die sog. Keynote, als Videostream des Fernsehsenders N24 (was freilich nicht heißt, dass N24 live übertragen hätte). Daraus stammt unser Foto als Screenshot. Darauf sowie auf die folgende, etwas spannendere (allerdings derzeit wohl nicht online verfügbare) Befragung Assange durch die Journalistin Melinda Crane beziehen sich die Berichte der deutschen Medienmedien.

"Heimelig sieht Julian Assanges Goldener Käfig aus. Auf dem Kaminsims sind Weintrauben drapiert, in der Ecke stehen ein Korb mit Brennholz und ein Strauß gelber Lilien. Davor sitzt der Wikileaks-Gründer und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. 'Es gibt nichts, was wir hätten anders machen können', sagt Assange",

leitet Sonja Pohlmann ihren Bericht im Tagesspiegel ein.

"... Assanges Gesichtszüge wirken teigig, sein Gesten gleiten mitunter ins Fahrige ab. Er trägt einen blauen Anzug, aber auch die hinter ihm drapierten gelben Lilien und künstlichen Weintrauben können nicht davon ablenken, dass die zurückliegenden Monate Spuren hinterlassen haben. 'Für uns ist es die beste und die schlimmste Zeit zugleich', sagt Assange, er wirkt müde und nervös zugleich dabei...",

schreibt Marin Majica in der BLZ. Das Glas ist halb leer oder halb voll, Wikileaks oder Openleaks oder beide haben sich suboptimal verhalten. In dieser Sache liegen fast alle Bewertungen in den Augen der Betrachter. Beziehungsweise lassen sie sich nicht trennen von der ungemein verzwickten Vorgeschichte, der "Verkettung von Schusseligkeiten, Zufällen, Indiskretionen und Schlampereien" (SPON neulich) bzw. der "Kombination von Missverständnissen" (Reiner Metzger, taz.de neulich) bzw. des "trotzigen Enthüllungsmarathons", den Wolfgang Michal in einer auch lesenswerten Argumentation nicht als "privaten Scherbenhaufen eines Übergeschnappten" lesen will.

Außerdem sind in der Wikileaks/ Openleaks-Frage eben auch viele Medien notgedrungen Partei, weil sie mit Wikileaks kooperierten, weil sie mit Openleaks kooperieren, weil Wikileaks nicht mit ihnen kooperierte. Dass Assange "gegen einstige Weggefährten" "stänkerte" und "weiter Verschwörungstheorien" verbreitet habe, schreibt zum Beispiel Spiegel Online (also der Internetauftritt des Ex-Wikileaks-Weggefährten Spiegel) zum gestrigen Auftritt. Um besondere Sachlichkeit bemüht sich Steffen Kraft, der als Digitalredakteur des Openleaks-Partners Freitag in die neueren Auseinandersetzungen involviert ist (freitag.de).

Im Grunde weiß eben (wahrscheinlich) noch niemand im sog. Westen, ob in irgendwelchen totalitären Staaten irgendwelchen zwar nicht mehr namenlosen, aber von hier aus betrachtet weitgehend gesichtslosen, womöglich "schuldigen" oder eher unschuldigen Informanten wegen all der inzwischen allen Interessenten zugänglichen Depeschen bereits ein Leid geschehen ist oder auch demnächst nicht geschehen wird. Oder ob sie sich schon längst dagegen gewappnet haben hätten oder hätten wappnen müssen - das ungefähr die Assange-Argumentation (weitere Artikel u.v.a.: Süddeutsche, meedia.de).

Im Anschluss an die Befragung Assanges durch Crane performte auf der Berliner Medienwoche dann auch noch, unmittelbar live, der Spiegel-Co-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron. Von seinem Auftritt wird medial wenig mehr überliefert, als dass erstens der Spiegel es wieder tun würde (also mit Wikileaks kooperieren), und man zweitens dort "verwirrt und erschüttert" (Tagesspiegel) oder "irritiert und erschüttert" (meedia.de, Medienwochen-Pressemitteilung) sei. Ohnehin aber war zu diesem Zeitpunkt "die Leitung in Assanges Kaminzimmer schon abgeschaltet" (Tsp.).

[listbox:title=Artikel des Tages[Tsp. über Assanges Auftritt##BLZ darüber##Die Einschätzung von freitag.de##TAZ über Bernd Hilder##Harpprecht über Journalistensolidarität (BLZ)##Burmester über Journalistensolidarität (TAZ)]]

Damit noch rasch in die viel überschaubarere Medieninstitutionsszene des Inlands: Neue Kleinigkeiten über den womöglich schon designierten neuen Intendanten des MDR, jedenfalls den einzigen offiziellen Kandidaten für den Posten sind zu vermelden. Auch Bernd Hilder hatte kein Handy dabei - oder zumindest keines für Medienjournalisten erreichbares - als er sich gestern auf dem Weg von Leipzig nach Bonn (zur Verleihung des Theodor-Wolff-Preises) befand. Obwohl er sympathischerweise nicht im Flieger, sondern im Zug unterwegs war. Das berichtet die Süddeutsche und leistet sich diese Einschätzung:

"In Leipzig gilt Zeitungsmann Hilder als munterer Talkshow-Plauderer und Moderator auf den Podien der Stadt. Als Blattmacher mit Konzepten sei er weniger aufgefallen, heißt es."

"Er will keine öffentliche Konzeptdebatte führen oder den Eindruck erwecken, sich in Szene zu setzen", schon um seine Wahl nicht zu gefährden, zeigt Peter Schilder (FAZ, S. 31) Verständnis, denn die sei, gerade weil Hilder als Kandidat der sächsischen CDU und des amtierenden Intendanten Udo Reiter gilt, noch nicht sicher. Für Hilder spricht zumindest: "Der amtierende Chefredakteur der 'Leipziger Volkszeitung' hatte bislang nichts mit dem skandalgeschüttelten Sender zu tun", meint die FTD.

Falls er Ende des Monats gewählt wird, würden jedoch "die Sektkorken knallen", fügt die TAZ hinzu - zumindest an Hilders noch aktuellem Arbeitsplatz, bei der Leipziger Volkszeitung. Hilders immer noch kursierenden Blick, den wir hier gestern als (MDR-angemessen) "abgebrüht" empfanden, nennt Steffen Grimberg "blasiert".


Altpapierkorb

+++ Breaking? "Schon im Monat Dezember wird nach Informationen der Süddeutschen Zeitung" (heute, Medienseite 15) "eine teutonische Variante des Wall Street Journal starten - im Netz, ganz ohne Gebühr", also entgegen Rupert Murdochs andernorts gelebter Neigung zu paid content im Internet. "Die Leitung übernimmt dabei Ralf Drescher, der bislang in der Verlagsgruppe des Handelsblatts in Düsseldorf gearbeitet hat."  +++

+++ Mehr Murdochs: Sohn James' Untersuchungsausschuss-Aussagen zu den Praktiken der eingestellten Zeitung News of the World sind nach weiteren Anhörungen leitender Murdoch-Mitarbeiter "weiter in Zweifel geraten"; daneben sollen 110 Stellen von rund dreitausend in England gestrichen werden (FAZ, S. 37)- +++

+++ Mehr Medienwoche: Den gestern dort (vgl. Altpapier) von Mathias Döpfner unterbreiteten Kompromissvorschlag im App-Streit greift heute die Süddeutsche gern auf. +++ Die neue Medientheken-App des ZDF unterzieht die BLZ einem Test aus strenger Nutzersicht und ist zufrieden. +++ Prompt "schoss" sie auch "auf Platz eins der Download-Charts", jubelt Daniel Bouhs (DAPD). +++ "Wird [Thomas] Gottschalk mit seinem neuen Format im Ersten Erfolg haben? 'Nein', so die knallharte Antwort von Jörg Grabosch...": Der Grund, aus dem der Tagesspiegel über diese Diskussion auf der Berliner Medienwoche berichtet, könnte darin bestehen, dass sie von seinem Medienressortchef moderiert wurde. +++

+++ Mehr MDR: Details zur Lage, z.B. die unteschiedlichen Wahlgangs-Ergebnisse, bietet flurfunk-dresden.de (via TAZ). +++

+++ Mehr Jauch: Noch hat er gar nicht in die Talkshoweinschaltquotenlandschaft eingegriffen, aber dwdl.de bietet schon einmal "eine erste Analyse". +++

+++ Mehr Theodor-Wolff-Preis. Hier die gerade ausgezeichneten Preisträger (mit Fotos). Die BLZ dokumentiert Auszüge aus der Dankesrede des Lebenswerk-Preisträgers Klaus Harpprecht, in der dieser einen "Solidaritätsfonds" zur "Aufstockung der Honorare zu einem Normalsatz von zwei Euro pro Zeile" vorschlug. Finanziert werden sollte dieser durch Abgaben besserverdienender Journalisten. +++ Im Harpprecht-Interview ebd. geht's eher um Fragen, wie "Wie war das denn früher bei der Recherche", also, "als es noch kein Internet gab"? +++

+++ Noch mehr Journalistenpreise: "Kein Journalist strebe nach Preisen, sagte der Chefredakteur. Deswegen habe die Redaktion bisher fast jeden Preis abgelehnt - mit einer Ausnahme in diesem Jahr: Den Henri-Nannen-Preis für Pressefreiheit hat sie angenommen, das Preisgeld musste gespendet werden" - da geht's natürlich um kein deutsches Blatt, sondern um Le Canard Enchaîné, und zwar im Tagebuch im neuen Internetauftritt von epd medien. +++ Anlässlich des morgen vergebenen Deutschen Radiopreises 2011 empfiehlt die Süddeutsche das in der (allerdings von Sonya Kraus präsentierten) Kategorie "Beste Innovation" nominierte Fußballradio "90elf". +++ Dirk Kurbjuweits neues Stipendium für junge Reporter begrüßt knapp die FAZ (Details: journalistenpreise.de). +++

+++ Heute im ZDF (22.45 Uhr): das Doku-Drama "An einem Tag in Kunduz. Der tödliche Befehl". "Trotz der Genrebezeichnung 'Doku-Drama' gelingt es den Autoren Mathis Feldhoff und Andreas Huppert, den Film von unsinnigen Actionszenen oder überfrachteten Dialogen freizuhalten", lobt Stephan Löwenstein in der FAZ. +++ "Das ist eine ziemlich einseitige Angelegenheit. Die Autoren machen sich größtenteils von einer einzigen Quelle abhängig, in demselben Maße, wie sich Oberst Klein bei seiner Entscheidung selbst von einer einzigen Quelle, dem kolportierten Telefonkontakt mit einem afghanischen Informanten, hatte leiten lassen", kritisiert Hendrick Feindt im Tsp.. +++

+++ Schließlich enthüllt Silke Burmester hier schon mal einen der Glückskeks-Inhalte, die die Freischreiber ab kommenden Montag vor Sitzen von Qualitätszeitungen verteilen. Da die Zielgruppe, ungefähr die, "die diesen ganzen Schrott wegschrubben, der mittlerweile als 'Journalismus' verkauft wird" (ebd. in ähnlichem Zusammenhang), lesen kann, zweifellos eine sinnvolle Aktion. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.