Das langweiligste Interview des Jahres

Die Verlageklage ist zurück aus dem Sommerloch und bietet Aussicht auf neue Eskalationsstufen. Beim MDR geht es hoch her. Und BR-Intendant Ulrich Wilhelm erweist sich als sagenhafter Fels in der Brandung.

Allmählich kommen alle aus dem Urlaub zurück, ab heute abend hilft auch Reinhold Beckmann dabei, dass das Fernsehen nicht mehr so viele Debüt- und Dokumentarfilme ausstrahlen muss (Im FAZ-Interview mit Michael Hanfeld sagt er, der in alter Frische Enoch zu Guttenberg, Winfried Kretschmann und Björn Engholm erwartet: "Ein Tisch, ein paar Stühle, ein gutes Gespräch, mehr braucht es nicht"). Und auch eine der größeren noch unaufgelösten Attraktionen des ersten Medienhalbjahres 2011, die Verlageklage gegen die ARD bzw. die "Tagesschau"-App (siehe Altpapier) kommt zum Start der Herbstsaison wieder hervor.

Ihre aktuell spektakulärste Facette kennt taz.de: Der WDR, also die größte Anstalt der ARD "erwägt ...jetzt rechtliche Schritte" gegen Christian Nienhaus (auf dem Foto beim Medienforum NRW zu sehen), einen der Geschäftsführer der an der Verlageklage beteiligten WAZ-Gruppe.

Es geht um dieses Interview, das Nienhaus dem Wirtschaftsressort der FAZ gab. Darin redete er u.a. von "einer Angst der Politik" vor ARD und ZDF ("...Im Landtag von Nordrhein-Westfalen wurde Abgeordneten gedroht, wenn Sie gegen die Mediengebühr stimmten, würde das in der WDR-Berichterstattung Folgen haben"). Stefan Niggemeier hatte das in seiner großen Community bekannt gemacht. Nun hat das dennoch gesamtgesellschaftlich "bislang eher wenig beachtete Interview" (taz.de) auch die Aufmerksamkeit des WDR und der im genannten Landtag vertretenen Parteien (Landtags-Vizepräsident Oliver Keymis von den Grünen äußert sich auch) erlangt. Falls die Öffentlich-Rechtlichen tatsächlich den Schaum vor dem Mund ihrer Kritiker quasi offiziell beglaubigten, indem sie diese Kritiker juristisch bedrohen, würden sich jedenfalls fantastische neue Eskalationsstufen abzeichnen. (Und alle richtig wichtigen medienpolitischen Entscheidungen trifft am Ende ja sowieso immer das Bundesverfassungsgericht.)

Wo Sie zuletzt von Nienhaus gelesen haben könnten: gestern hier im Altpapier. Schließlich ist dieselbe WAZ-Gruppe gerade Gegenstand eines Halbmilliarden-Geschäfts. Gestern berichtete die FTD, bei der WAZ könnten gleich beide Geschäftsführer, neben Bodo Hombach eben auch Nienhaus, gehen müssen. Das veranlasste den Anwalt der mutmaßlichen künftigen Mehrheitsgesellschafter Petra und Günther Grotkamp zu einer Erklärung ("Frau Grotkamp hat volles Vertrauen in Herrn Nienhaus und schätzt seine Tätigkeit außerordentlich. Frau Grotkamp möchte auch in  Zukunft erfolgreich mit Herrn Nienhaus zusammenarbeiten"; vgl. meedia.de), welcher man freilich nicht unbedingt uneingeschränkt Glauben schenken muss.

Das tut z.B. der Tagesspiegel in seiner Gesamtdarstellung der Sache nicht. "Nienhaus, offiziell der Mann des Funke-Clans an der Konzernspitze, hat seinen Zenit bereits überschritten", schreibt die TAZ in ihrer heutigen WAZ-Umschau (die ansonsten vermeldet, wie es die Süddeutsche auch tut, dass Hombachs Vertragsauflösung bereits ausgehandelt wird).

Zurück zu der Verlageklage: "Die Sache muss auch nicht eskalieren", sagt der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm. Mit dieser Nullaussage bestritt die Wochenzeitung Die Zeit Vorabmeldungs-Werbung für ein sich über zwei große Seiten ergießendes Gespräch. Es geht darin um ungefähr alles, was jenseits der Mediennische in diesem Jahr schon zum Thema Medien gesagt wurde. Und es fasziniert, wie Wilhelm keinen Fingerbreit von den Sprachregelungen und sonstigen Worthülsen der derzeit amtierenden ARD-Intendanten abweicht. Ein paar Kostproben von Wilhelm-Sätzen:

"Ein Journalist muss sein Handwerk beherrschen. Er muss recherchieren und formulieren können, aus unabhängiger Position berichten, außerdem offen und kritisch sein. ... Journalisten erfüllen eine für die Demokratie wesensbestimmende Aufgabe. Eine besondere Rolle haben die öffentlich-rechtlichen Sender. ... ..."

"Durch Zeitdruck und appellative Berichterstattung wird der Diskurs verkürzt. Das ist eine Entwicklung, die mir Sorgen macht. Journalisten müssen Meinungen und Entscheidungen in größerer Ruhe überprüfen können, Gerade auch bei hektischen Entwicklungen an den Finanzmärkten."

"Unser höchstes Gut ist die Unabhängigkeit der Berichterstattung. Sie sichert doch erst die Glaubwürdigkeit eines Mediums und seiner Journalisten. ..."

[zur Brender-Frage, also der, ob nicht zuviele aktive Politiker mit zu viel Einfluss in den Gremien von ARD und ZDF sitzen:] "...In einem laufenden Verfahren ist es geboten, Zurückhaltung zu üben. Eine Klärung solcher Fragestellungen begrüße ich."

"Die 'Tagesschau'-App entspricht exakt dem öffentlich-rechtlichen Auftrag: Es geht um Nachrichten, um aktuelle Berichterstattung. ..."

"Was ich nicht ertrage, muss ich auch nicht schauen. Zum Beispiel sehe ich mir nachmittags die Scripted-Reality-Sendungen mancher privater Kanäle nicht an."

In dem Umfeld kein Wunder, dass es dann "Ich halte es für wichtig, und zwar im Interesse der ganzen Gesellschaft, dass die wirtschaftliche Grundlage der Zeitungen auch im digitalen Zeitalter erhalten bleibt" als zweiter Wilhelm-Satz in die (auch kein Wunder, dennoch natürlich gern weiterverbreitete) Vorabmeldung schaffte. Bei aller Freude an größter Ruhe als Gegengift gegen all die Hektik: Dieses Interview hätte der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo jedem Interviewer um die Ohren gehauen und es dann um 90 bis 100 Prozent gekürzt, wenn er es nicht selbst geführt hätte.

[listbox:title=Artikel des Tages[taz.de über Nienhaus vs. WDR##TAZ über Hombach & WAZ##Welt über MDR##09/11-TV in der BLZ]]

Wobei man zu Ehren des Interviewers di Lorenzo sagen muss, dass er gegen Ende in einer Art von vielleicht verzweifeltem Versuch, ein wenig Feuer zu schüren, ohne freilich Wilhelm aus der Ruhe bringen zu können, die Rundfunkgebühren gleich zweimal "Zwangsgebühren" bzw. "Zwangsabgaben" nennt. Das ist für einen, der auf der Zwangsabgaben-finanzierten Talkshowschwemme (di Lorenzo: "Gibt es in der ARD zu viele Talkshows?" - Wilhelm: "Über diese Frage diskutieren wir natürlich in der Runde der Intendanten, kollegial und nicht in der Öffentlichkeit") mitschwimmt, sicher doch leicht bemerkenswert.
 


Altpapierkorb

+++ Die aktuell heißeste Krisenfront der ARD verläuft beim MDR. "Die turbulente Sitzung im MDR-Rundfunkrat" sei "nichts weniger eine Leipziger Revolution" gewesen, berichten Uwe Müller und Marc Nelle in der in der MDR-Berichterstattung führenden Welt. Und zwar eine gegen Udo Reiter, den scheidenden Intendanten, der auch "einen von ihm verfassten Brief an die 'Welt' herumgereicht" habe, in der er sich deren Berichterstattung beschwert. +++ Außerdem wurde Unterhaltungschef Udo Foht nach seiner Suspendierung nun fristlos entlassen (FAZ). "Mittlerweile sollen sich sechs Produzenten gemeldet haben, die nach Forderungen von Unterhaltungschef Foht Zahlungen geleistet haben" (bild.de). +++ "In einem Brief an den MDR-Verwaltungsratschef wird Reiter bezichtigt, seine Aufklärung im Fall Foht nicht korrekt dargestellt zu haben", weiß außerdem die SZ (S. 15), der dieser Brief vorliegt. Es geht darum "dass nicht Reiter die Dinge aufgeklärt habe, sondern Wille - 'während des Urlaubs von Prof. Reiter'", also Reiters Stellvertreterin und Nachfolgekandidatin Karola Wille. +++

+++ Ein Thema, das auch laufend aktualisierte Überblicke erfordert: die Wiki-vs.-Openleaks-Sache. "Jetzt werden die Informationen, die Wikileaks zugespielt wurden, verantwortungslos preisgegeben - als Ware im Krieg der Eitelkeiten aller Beteiligten", schreibt Detlef Borchers in der FAZ (S. 35) und erwähnt auch den frischen Brief des Medienanwalts Jony Eisenberg im Namen Julian Assanges (dazu frei online: heise.de). +++

+++ 9/11-TV läuft sich warm. In der Süddeutschen nennt Willi Winkler Stefan Aust, dessen Film "Die Falle 9/11" die ARD am Sonntag (21.55 Uhr) zeigt, den "immer noch ...besten Mann für dokumentarisches Fernsehen". Wobei der "gewaltig mäandernde" Film selbst "abwechselnd brillant und dann wieder banal" sei. +++ In der FAZ nennt Michael Hanfeld das, was Arte heute zum Thema zeigt, "eine ungeheure Erklärungshilfe zu der Lage, in der sich die Welt heute befindet." +++ In der Berliner Zeitung vergleicht Sarah Mühlberger Austs ARD-Film mit dem heutigen ZDF-Film: "Immer mit im Bild: Terrorexperte Elmar Theveßen. In 'Nine Eleven - Der Tag, der die Welt veränderte' ist er Protagonist seines eigenen Films. In Zwischensequenzen wendet sich Theveßen, der dieser Tage ein gleichnamiges Buch veröffentlicht, mit kurzen Ansprachen an den Zuschauer. Mal erklärt er einen Zusammenhang, mal seine Meinung, mal das weitere Vorgehen. Der Dramaturgie schaden diese Unterbrechungen mehr als sie nützen. ... Dass außer Theveßen auch die Co-Autorin Souad Mekhennet mit im Bild ist, versteht nur, wer sie kennt; zum Zuschauer sprechen darf nur Theveßen." +++

+++ Der RBB muss noch immer nicht den Berlinwahl-Werbespot der NPD zeigen. Diese will daher nun vors Bundesverfassungsgericht gehen (Tagesspiegel). +++ Gestern ebd. ganz übersehen: Erörterungen über das Verhältnis zwischen der Linken und den Medien. +++

+++ "Viele Journalisten schliefen zu zweit in einem Bett, manche sogar zu dritt. Um das Zimmerklo zu spülen, holte man sich Wasser in Plastikflaschen und Eimern aus dem Swimmingpool. Kriegsbedingungen eben. Die Einheimischen leben ja auch nicht besser": Da berichtet Thomas Schmid für die BLZ aus dem libyschen Tripolis. +++ Vom skandinavischen Trend der verschärften Regeln für Leserkommentare im Internet berichtet taz.de. +++

+++ "Der Schatz von 18 Jahren Reflexion und Diskussion über Kommunikation und Medien", der bisher schon erschienen ist, bleibt erhalten. Aber er wächst nicht mehr, zumindest nicht beim schweizerischen Medienheft (medienheft.ch), zu dessen Vorgängern bis 1992 die Zeitschrift "Zoom" zählte und das zuletzt trotz seines Namens nur online erschien. Das wird eingestellt. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.