Tigerblut im Supertext

Der bestbezahlte Fernsehstar der Welt beeindruckt und verstört im Netz ganz ohne TV-Industrie. Und die ARD rückt den "Großen Zapfenstreich" ins Vorabendprogramm.

Erstmal ein breaking Programmhinweis für den morgigen Donnerstag, der heute auf den meisten Medienseiten gern weitergegeben wird:

"Das Erste überträgt die feierliche Verabschiedung des 15. Verteidigungsministers in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 18.25 Uhr bis 19.20 Uhr live."

"Zu Guttenberg geht" heißt die Show inzwischen im offiziellen Programmablauf. Abzuwarten bleibt, ob zum annoncierten Moderator und Kommentator Ulrich Deppendorf nicht noch der Adelsexperte Rolf Seelmann-Eggebert hinzugeladen wird, jetzt da zu Guttenberg erst einmal kein politisches Amt bekleidet, und ob das Zweite wirklich beim Plan bleibt, morgen von 18.00 bis 19.00 Uhr einen Allerweltskrimi auszustrahlen.

Daran, dass es sich beim vorläufigen Abschied des Freiherrn um ein Ereignis der Kategorie A handelt, eines (nach dem Schlüssel, auf den sich die ARD- und ZDF-Chefredakteure 2007 geeinigt hatten; vgl. Altpapier aus dem Januar) von so großem öffentlichen Interesse, dass eine Ausstrahlung in beiden öffentlich-rechtlichen Sendern vertretbar ist, bestehen ja wohl keine Zweifel.

Regelmäßige Altpapier-Leser erkannten bereits am Einstieg, dass zum heutigen Mittwoch keine breaking Mediennews eintrafen. Es wird viel reguläres Fernsehprogramm besprochen (der ARD-Fernsehfilm "Am Kreuzweg", die ARD-Doku über Kirsten Heisig, mehr unten). Und aus den Weiten der bunt-vermischten Panorama-Ressorts schießt Charlie Sheen nach vorn ins medienjournalistische Bewusstsein.

Das ist vor allem dem in seiner Länge, dann aber durchaus auch seiner Wucht gewaltigen FAZ-Artikel der in Phoenix, Arizona ansässigen Korrespondentin Nina Rehfeld zu verdanken.

"Er balancierte so haarscharf auf der Scheide zwischen Geisteskrankheit und anarchischem Genie, dass seinen Interviewern die Furcht ins Gesicht geschrieben stand, Sheen könnte ihnen im nächsten Moment den Teppich unter den Füßen wegziehen",

schreibt sie, und:

"Dass ein Mann mittleren Alters lauthals zu seinem promisken Leben mit blutjungen Frauen steht, statt sich als sexsüchtig zu bejammern und einer Domestizierungskur zu unterziehen - so etwas schockiert das puritanische Amerika nachhaltig. (...) Vielen Fans wurde Sheen denn auch zur Widerstandsfigur gegen das verlogene Personal der Entertainment-Welt."

Das beeindruckt die FAZ halt auch. Die Story lässt sich freilich ebenfalls über die Superlativ-Schiene anteasern. Bei Sheen handelt es sich um den "bisher bestbezahlten TV-Star der Welt", weiß das führende deutsche Panoramaportal Spiegel Online. Die Entscheidung zu seinem endgültigen Rausschmiss, die Warner Bros Entertainment Inc. nun getroffen hat, "könnte hunderte Millionen Dollar kosten" (dwdl.de).

Medialer Ausgangspunkt ist die Fernsehserie "Two and a Half Men", die man sich hierzulande unter demselben Titel gestern abend auf Pro Sieben hätte ansehen können (nicht aber in der Pro Sieben-Mediathek abrufen kann). Darum geht's laut Pro Sieben-Episodenguide im Kern:

"Charlie, Junggeselle und Frauenheld mit gutem Einkommen, macht sich ein leichtes Leben in seinem Haus am Meer. Damit ist es bald vorbei, als sein Bruder Alan bei ihm einzieht. Seine Frau Judith hat ihn aus dem Haus geworfen, weil sie lesbisch geworden ist. Alan bringt auch seinen zehnjährigen Sohn Jake mit, mit dem sich Charlie bald gut versteht..."

Eben dieses "Partylöwen-Image" (FAZ), von dem die Serie lebt, hat Sheen nun im wahreren Leben zu sehr ausgekostet, als dass es seinen Auftraggebern noch gefallen könnte. "Und so kollabierte" seine Karriere nun "in einem kokelnden Schutthaufen aus Selbstdemontage, Drogensucht, Quotenrausch und Sensationsgier", dichtet Spiegel Online.

Oder sie kollabiert doch nicht - das ist der medial spannende Aspekt, denn man kann Sheen nicht nur bei Twitter folgen, sondern auch in einer Reihe von Webcam-Videos auf dem Portal ustream.tv. In der heutigen Episode von "Sheen's Korner" ("Building the Perfect Torpedo") sieht er zum Glück wieder etwas gesünder aus als in der gestrigen, der unser Screenshot oben entstammt und aus der SPON vielerlei frische Sprüche um "Tigerblut" und "Adonis-DNA" übersetzt und genüsslich beschreibt:

"Sein wirres Haar steht hoch, das Gesicht ist bleich wie ein Totenkopf, er raucht Kette, vergräbt den Kopf in den Armen, stottert, sitzt keine Sekunde still. 'Interessiert mich 'nen Scheißdreck', wütet er in ein Telefon. 'Interessiert mich 'nen Scheißdreck.'"

Wer weiß, vielleicht wird Charlie Sheen der Fernsehstar, der die Vermarktungszusammenhänge im Fernsehen derart aufbricht, wie das in der Musikindustrie schon längst geschehen ist. Für weitere aktuelle Hintergründe empfehlen wir den schon verlinkten dwdl.de-Artikel mit Links zum noch viel einschlägigeren US-Portal tmz.com.

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Damit noch einmal ins Inland. Haben wir in Deutschland Celebrities, die zu vergleichbaren Widerstandsfiguren gegen die Entertainment-Welt taugen könnten? Der schon erwähnte Freiherr zu Guttenberg und Konstantin Neven DuMont sind jeweils bestens erzogen. Wir haben bloß jede Menge Persönlichkeiten, die in den Sesseln der zahlreichen Talkshows Platz nehmen, sich mit Sandra Maischberger unterhalten oder Stellung zur sog. Realität aus Frank Plasbergs Einspielfilmchen nehmen könnten.

Wer vielleicht nicht Teil der Blase werden möchte, wird es erst recht. Zur Verwendung von Judith Holofernes' Offenem Brief an die Bild-Zeitung als Anzeigentext derselben ausgerechnet in der TAZ hat deren Chefredakteurin Ines Pohl in einem Radiointerview (das das TAZ-Hausblog aufbereitet hat) jetzt noch eine großartige Erklärung ersonnen:

"Es ist nicht so, dass da urheberrechtliche Grenzen meiner Meinung nach überschritten wurden. Sie hat den selber ins Internet gestellt, er wurde zehntausenfach geklickt, es ist ein Supertext. Ich kann natürlich auch sagen, sie hat dadurch noch eine ganz andere Aufmerksamkeit gekriegt, dass die BILD-Zeitung dafür gezahlt hat, dass der ganze Text auf einer ganzen Seite abgedruckt wird."

Vielleicht hätte Holofernes ihren Text weniger super gestalten sollen, ein bisschen so wie Charlie Sheen.


Altpapierkorb


+++ Nicht oder nicht ganz freiwillig zahlt die Bild-Zeitung 60.000 Euro an die Zeitschrift Lettre International, die einst sozusagen Thilo Sarrazin als Talkshow- und Buchmarkt-Aufreger entdeckt hatte, und zwar wegen der nicht ganz freundlichen Übernahme jenes Lettre-Interviews (eben nur auszugsweise online) um die "Kopftuchmädchen". meedia.de berichtet vom überraschenden Verlauf einer Verhandlung, in der der als Zeuge geladene Bild-Redakteur Hans-Jörg Vehlewald Überraschendes aussagte, und meint: "Das Verhalten von Bild in dieser Sache widerspricht in der Tat der, nicht zuletzt von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner vorangetriebenen, Hamburger Erklärung zum Leistungsschutz." +++

+++ Die ARD-Doku "Tod einer Richterin" über Kirsten Heisig läuft heute um 22.45 Uhr. Sie wurde schon öfters vorabbesprochen. Heute schreiben die FAZ darüber ("eindrucksvolles Porträt", ansonsten geht es Regina Mönch vor allem um Heisig statt um den Film). +++ "Es ist den Autorinnen gelungen, den Verlockungen zu einem reißerischen Film zu widerstehen" (Sabine Rennefanz, BLZ). +++ "Nichtssagend" (Cigdem Akyol bemängelt in der TAZ, dass Heisig-Kritiker wie der Talkshow-bekannte Christian Pfeiffer fehlen). +++ "Beim Fernsehen scheint man noch immer zu glauben, dass wir einer Person höchstens zwei Sätze lang zuhören können, ohne die Implosion unserer Konzentrationsfähigkeit zu riskieren", diesen großen Satz schrieb Kerstin Decker im Tagesspiegel. +++ Die FAZ vermeldet überdies, dass Regisseur Christian Wagner und Autor Stefan Dähnert Heisigs Buch "Das Ende der Geduld" für den NDR verfilmen wollen. +++

+++ Noch' ne ARD-Doku kreist um sexuellen Missbrauch in Sportvereinen (SZ, Tsp.). +++

+++ Noch zuvor ebenfalls in der ARD: der SWR-Fernsehfilm "Am Kreuzweg". "Achtung, dieser Film kann explizit religiöses Material enthalten. Vielleicht sollte man das voranstellen", so macht die BLZ darauf gespannt. Es ist freilich, muss man an dieser Stelle hinzufügen, äußerst katholischer Content. +++ evangelisch.de empfiehlt den Film aber auch. +++ "Die taz kriegt ja auch immer wieder mal eins auf die Nase, hält aber trotzdem Kurs."/ "In Deutschland sind Sie bekannt, in Österreich eine Berühmtheit": Da tauschen David Denk und Harald Krassnitzer, sowohl der ARD-"Winzerkönig" wie auch der "Am Kreuzweg"-Hauptdarsteller, auf geradezu österreichischem Niveau Höflichkeiten aus ("Sie wollen doch gar nicht auf den Film zu sprechen kommen, oder?" - "… Ähm, also ich fand ihn nicht schlecht, aber wenn Sie mich schon fragen, interessiert es mich tatsächlich noch mehr, wie es ist, Harald Krassnitzer zu sein.") +++

+++ Das Internet ist voll von Filmchen, "doch die allermeisten Produktionen schaffen es nicht, über ihre jeweilige Nische hinaus populär zu werden, was wohl auch damit zu tun hat, dass das klassische Fernsehen artverwandte Reality-Formate nach wie vor massenhaft und von A wie Auswanderer bis Z wie Zooleben abspult. Und trotzdem: Fürs Netz produzierte Serien wie 18xUmsteigen haben ungeachtet aller Schwächen Potential. Sie können viel freier und rücksichtsloser agieren und sich, unbeeinflusst von Sendersystemen, direkt ans Publikum werden". Da geht die Süddeutsche (S. 15) völlig unabhängig von Charlie Sheen, vielmehr am Beispiel einer deutschen Produktion, dem Phänomen der Webserien nach. +++ Außerdem geht's ebd. um eine wohl schon klassische TV-Serie: Heute beginnen in Köln die Dreharbeiten zur fünften Staffel "Stromberg", und Hans Hoff gibt daraus schon mal den Oneliner "Karriere ist kein Plattenbau" zum Besten. +++

+++ Facebook- und Twitter-Revolutionen - gibt's die überhaupt? Darüber zerbricht dieser Tage mancher Feuilletonist seinen Kopf. "Anders als den autoritären Regimen in Nordafrika gelingt es den westlichen Regierungen ihr System der Machtausübung auf das Internet zu übertragen", wirft Julius Endert auf Carta (unter Verwendung "einiger Gedanken" von Robin Meyer-Lucht, wie vorbildlich druntersteht) in die Debatte. +++ Der Angst "angesichts der Diktatorendämmerung in der arabischen Welt" auch in China spürt der Tagesspiegel nach. +++

+++ Was alles fehlt: Richard Gutjahr an der Spitze und überhaupt in der Schlange, die sich bereits bildet, ab Freitag in den USA das neueste Apple-Dings zu erwerben (BLZ). +++ Was heute nicht fehlt: schöne Worte des Doris Heinze-Nachfolgers, Fernsehfilm- und damit auch "Tatort"-Chefs beim NDR, Christian Granderath, zur aktuellen NDR-"Tatort"-Lage (Tsp.). +++ Was im Juni 2011 nicht fehlen wird: die bekannt überwachungskritischen TAZ-Sportreporter bei der Frauenfußball-WM 2011 (TAZ). +++


Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.