Zu viele Klischees oder zu wenig Lokalkolorit, zuviel Sex mit der Assistentin oder zuviel Scientology im Umfeld der Darstellerin? Jedenfalls kommt der am gespanntesten erwartete "Tatort" 2011 aus der Schweiz.
Ein kompliziert erzählter Krimi, dem es an Witz fehlt, aber nicht an Klischees? Her damit, so etwas schauen wir Deutschen täglich in großer Zahl an, könnte man einserseits sagen.
Andererseits ist der "Tatort" solch ein ehrenvolles Format, das in großen Jubiläen geradezu ertrinkt, im Jahre 2009 seine 750. Folge feierte, 2010 das 40-jährige Bestehen und schon in Kürze seine 800. Folge begehen wird (und wer die ARD kennt, ahnt, dass Vorbereitungen zum "Tatort Star Quiz" zur 1000. Ausgabe mit Günther Jauch circa im Herbst 2016 schon auf Hochtouren laufen). Insofern also haben die für zehn Jahre aus dem "Tatort"-Betrieb ausgeschiedenen Schweizer Beiträger scheinbar Angst vor der eigenen Courage bekommen und ihre im April eingeplante Folge "Wunschdenken" kurzfristig aus dem Programm des gesamten deutschen Sprachraums gekippt. Das meldete gestern die Süddeutsche und breitet sich heute weiter aus (z.B. FAZ, S. 33, Tsp.).
Zuerst hatte am Wochenende die schweizerische Sonntagszeitung von der ungewöhnlichen Maßnahme berichtet. Deren Artikel ist frei online nur als knappe Zusammenfassung zu haben, allerdings dennoch deutlich:
"Gemäss Recherchen der SonntagsZeitung ist der Krimi so schlecht, dass er überarbeitet werden muss. Nathalie Wappler, die neue Kulturchefin, bestätigt: 'Dieser 'Tatort' genügt unseren Qualitätsansprüchen nicht'."
Beim spektakulärsten Kritikpunkt, der sich auch in belustigten Vermischtes-Artikeln verbreitet, handelt es sich um Kuhglocken, in welche der von Stefan Gubser gespielte Luzerner Kommissar "stürzt und ohnmächtig wird". Davon, aber auch von weiteren Anlässen von Kritik ("Probleme mit der Synchronisation" zwischen schweizer- und hochdeutsch; enttäuschende schauspielerische Leistungen des Co-Stars Sofia Milos, "gleich zweimal Sex" zwischen der von ihr gespielten Assistentin und dem Kommissar; der Schauplatz Luzern sei nicht "spürbar") sowie Dingen, die man, wenn man schon am Kritisieren ist, eigentlich auch noch anbringen könnte, weiß die inoffizielle, aber äußerst detaillierte "Tatort"-Webseite tatort-fundus.de zu berichten:
"Wer den Film (schon) kennt, ist ebenfalls verwundert über diese Kritik: so viele Schwenks über die Stadt und den Vierwaldstätter See machen eher den Eindruck eines Luzern-Werbevideos - die Stadt kommt darin sicherlich nicht zu kurz und auch überaus gut weg... ."
Zu den Hintergründen der Chose zählt eine Personalie beim Schweizer Fernsehen: Seit Anfang des Jahres gibt es dort bzw. in der "Unternehmenseinheit 'Schweizer Radio und Fernsehen'" eine neue Kulturchefin. Der Tagesanzeiger porträtiert diese Nathalie Wappler, die also die Arbeit ihrer Vorgänger ungewöhnlich explizit kritisiert, in freundlichen Worten. Sie sei auch
"...'iDg': in Deutschland gewesen. (...). In Kreuzlingen am Bodensee aufgewachsen, studierte sie in Konstanz Geschichte, Politik, Germanistik und verdingte sich dann bei deutschen Fernsehanstalten. Sie war Chefin vom Dienst beim 3sat-Magazin 'Kulturzeit', aber auch Redaktorin beim Kulturmagazin 'Aspekte' und beim Polittalk 'Maybrit Illner' des ZDF – sie hat sich in Deutschland TV-Wissen geholt."
Insofern liegt meedia.de mit der Zuspitzung "Deutscher wird Sündenbock", die sich auf den Drehbuchautor Nils-Morten Osburg bezieht, wohl eher daneben. Regisseur Markus Imboden wiederum ist Schweizer und zeigt sich z.B. seiner Heimatzeitung, der Berner Zeitung gegenüber, sowohl von der Kritik verdutzt wie auch grundsätzlich einsichtig ("Es kann gut sein, dass meine Arbeit in gewissen Punkten mangelhaft war"). Zu Vorwürfen, die sich Imboden sicherlich nicht machen lassen, zählt der, zu wenige deutsche Fernsehkrimis zu drehen. Sicher so zufällig, wie der Schweizer Kommissar am kommenden Sonntag im Eva Mattes-"Tatort" auftritt (vgl. Foto), steht Imbodens jüngster, nun im Norddeutschen angesiedelter "Dorfkrimi mit Hinnerk Schönemann als Privatdetektiv Finn", "Mörderisches Wespennest", just am kommenden Montag zur Ausstrahlung im ZDF an.
Dann können sich interessierte Zuschauer ja überzeugen, wie es mit Klischees, Witz und Lokalkolorit steht.
Als Sündenböckin fest in der Verantwortung steht inzwischen jedenfalls die bereits erwähnte Hauptdarstellerin Sofia Milos, die "bei Drehstart noch als großer Coup vom Sender gefeiert wurde" (tatort-fundus.de), schon weil sie Besucher ihrer klingenden Homepage mit den Worten "You may know me best from my current role on 'CSI: Miami' as well as from 'The Sopranos'..." empfangen kann.
Einerseits lässt sich Regisseur Imboden nun mit "Niemand konnte ahnen, dass sie ein völlig anderes Verständnis von Krimi hat. Doch der 'Tatort' ist nun mal nicht 'CSI'", zitieren (Berner Zeitung). "Der US-Schauspielerin mit Schweizer Wurzeln sei es am Set in erster Linie darum gegangen, gut auszusehen."
Andererseits - darauf, dass Milos auch Scientology-Aktivistin ist bzw. sogar "eine radikale Untergruppierung der Scientology-Organisation" unterstützt, wiesen sowohl die Bild am Sonntag (unter der Schlagzeile "Sofia Milos: neuer 'Tatort'-Star" am selben Sonntag, an dem in der Schweiz der Eklat um dieselbe "Tatort"-Folge publik wurde), als auch nun der Hamburger Verfassungsschutz hin (vgl. TAZ). Die FAZ präzisiert:
"Der neue Schweizer 'Tatort' hat vielleicht noch ein ganz anderes Problem als jenes mangelnder Qualität: Die Schauspielerin Sofia Milos ... ist Mitglied der Scientology-Sekte. Insbesondere unterstütze sie eine radikale Scientology-Gruppe, die in Deutschland unter der Bezeichnung 'Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte' (KVPM) auftritt. Darauf weist der Hamburger Verfassungsschutz hin, der die Organisation beobachtet. Die Gruppe sei auch in Deutschland aktiv, teilen die Verfassungssschützer mit, ihr internationaler Zweig verunglimpfe Psychiater als 'Verrückte, Mörder und Vergewaltiger'".
Daraufhin nahm auch die deutsche ARD Stellung ("Die weltanschauliche Orientierung von Sofia Milos spielte keine Rolle bei der Besetzung, die aus rein inhaltlichen Erwägungen stattfand" ...), woran die FAZ wiederum erstaunt, dass diese Erklärung vom SWR kommt (der im ARD-Föderalismus für die Kooperation mit der Schweiz zuständig ist), dessen Fernsehfilmabteilung aber auch 2010 "das beachtliche Anti-Scientology-Stück" "Bis nichts mehr bleibt" verantwortete.
[listbox:title=Artikel des Tages[Der Schweizer Tatort-Eklat (tatort-fundus.de)##Die neue Schweizer TV-Kulturchefin (Tagesanz.)##Der einsichtig verdutzte Regisseur (Berner Ztg.)##FAZ (und SZ) vs. commentarist.de (SPON)]]
Wer sich tief in Verschwörungstheorien verstricken möchte, könnte jetzt dem Umstand nachgehen, dass so wie das Schweizer Fernsehen auch das SWR-Fernsehspiel seit kurzen eine neue Chefin hat, Christine Strobl, bei der es sich um Wolfgang Schäubles Tochter handelt... aber das führt vielleicht auch viel zu weit.
Daher hier bloß noch die Agenturnachricht aus der Schweiz, dass zur Überarbeitung bzw. Nachbesserung der so schlechten "Tatort"-Folge bloß "Retouchen" nötig seien, also "voraussichtlich... kein Nachdreh", und die des Blick, dass eine neue schweizerische Kommissarin-Nachfolgerin mit ähnlich "wilden Locken" wie Milos auch schon gefunden ist. Delia Mayer heißt sie.
Altpapierkorb
+++ Uiuiui, so lange Passagen aus der FAZ wie eben oben, darf man die zitieren? Nein, jenem sechsseitigen Schreiben der Anwaltskanzlei Lausen zufolge, das zur zumindest vorübergehenden Abschaltung der Webseite commentarist.de (das dazugehörige Blog ist weiter aktiv) führte, auf der kürzlich noch "mehr als tausend Journalisten ...mit ihren Meinungsartikeln aufgeführt" waren. Was vermutlich dahinter steckt, beschreibt die SPON-Netzwelt durchaus im Widerspruch zur Linie des eigenen Hauses: "Damit künftig trotzdem selbst kleinste Textbausteine wie Überschriften einen rechtlichen Schutz genießen, fordern große Medienhäuser, darunter auch der Spiegel-Verlag, derzeit ein sogenanntes Leistungsschutzrecht". +++ Oder hätten die commentarist.de-Aggregatoren auch einfach noch mehr FAZ-Kommentare und weniger Heribert Prantl zitieren sollen, um sich die FAZ gewogen zu machen?.. +++
+++ Apple hat "den Verlegern von Zeitschriften und Zeitungen - und dem Druck des Marktes - nachgegeben" und lässt also auch andere Abonnement-Modelle für iPad- und iPhone-Apps zu (Süddeutsche). +++ Unter den Überschriften "Apple diktiert die neuen App-Store-Regeln" bzw. gar "Apple geht auf Kollisionskurs mit der Medienbranche" sehen kress.de und das Handelsblatt dieselbe Sache weitgehend anders. +++
+++ In der Süddeutschen geht's ferner um Streit in den Niederlanden wegen dieser Karikatur (auf der Niederländer Geert Wilders erkennen) sowie, verknappt bis zur Kaumverständlichkeit für Uneingeweihte, um Parteienstreit im Chefredaktionsausschuss des ZDF Fernsehrats wegen eines "Frontal 21"-Beitrags. +++ Sowie natürlich um Fußballtrainer Jürgen Klopps Auftritt wiederum im schon oben erwähnten SWR, aus dem nur ein Ausschnitt bei Youtube kursiert. +++
+++ Ebenfalls prallvoll die FAZ-Medienseite, auf der es ums "Google Art Project" geht ("Die Sorge, dass der digitale Museumsbesuch den tatsächlichen ersetzt, ist nicht angebracht"), um Apple heute nur wegen der Arbeitsbedingungen bei seinen Zulieferern, um eine ARD-Reportagereihe ("Dass Deutschland sich abschafft, wussten wir ja schon, wie sehr es außerdem unter Druck steht, erfahren wir jetzt") sowie um die von Volker Herres "persönlich am Valentinstag" verkündete Fortsetzung des ARD-"Wohlfühlfernsehens aus Lüneburg", der Telenovela "Rote Rosen", um mindesten 200 und wahrscheinlich weitere 1000 Folgen. +++
+++ Das ZDF sollte "Wetten, dass...?", sofern Jörg Pilawa übernimmt, im Nachmittagsprogramm dagegen platzieren, regt in der TAZ Silke Burmester an (die aber ja auch noch im Rennen um die Gottschalk-Nachfolge ist, vgl. Altpapier gestern). +++
+++ Dass Monica Lierhaus, wenn sie nun bei der ARD-Fernsehlotterie wohl 450.000 Euro pro Jahr verdient, nicht aus GEZ-Gebühren bezahlt wird, sondern genauso wie der FC St. Pauli aus dem üppigen Marketing- und Werbebudget der Lotterie, beschäftigt Tagesspiegel und taz.de. +++
+++ Die Kritik des Journalisten und Bloggers Evgeny Morozov am digitalen "Klicktivismus", der von Facebook-Revolutionen etc. redet, erörtern BLZ/ FR. +++
+++ "Blond bringt nix" sei "ein schwungvoller, lebensechter, pointierter Film von Frauen ... über Frauen", freut sich Else Buschheuer in der SZ. "Die ARD preist 'Blond bringt nix' mit dem Motto 'Von Frauen für Frauen' an", doch seien "Alle Frauen rings um Lotti stark überzeichnet und erfüllen jedes Klischee", meint Torsten Wahl (BLZ), der mit Katrin Sass über die ARD-Komödie sprach und erfuhr, dass Sass das Drehbuch, als sie es bekam "erst mal in den Papierkorb geworfen" hatte. Frauenversteher Joachim Huber vom Tsp. findet's gut, die TAZ irgendwie auch. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.