Alles über Assange: Der verhaftete Wikileaks-Chef wird bereits fürs Gedächtnis der Weltöffentlichkeit aufbereitet. Die Unsicherheit, was von ihm zu halten ist, verkörpert am allerschönsten die FDP.
Das Jahr 2010, auf das die Rückblicke jetzt geschrieben werden müssen, wird medienmäßig bemerkenswert von Männern um die 40 bestimmt, die auf Fotos oft etwas an verlorene Engel oder Prinzen erinnern, sich mit ihren kleinen Communitys zerstritten haben und dennoch ganz große Gegner angreifen: ihren Vater (wobei es von Konstantin Neven DuMont heute nichts Neues gibt) oder die Vereinigten Staaten von Amerika wenn nicht gar den ganzen sog. Westen.
Julian Assange zieht sich heute quer durch alle Ressorts, von den Titelfotos von seiner Verhaftung in London bis in die Feuilletons und auf Medienseiten. Sein eigener, punktgenau zur Verhaftung publizierter Beitrag erschien in der Zeitung The Australian ("The Heart of The Nation") und packt unter der Überschrift "Don't shoot messenger for revealing uncomfortable truths" seine australischen Landsleute nicht nur mit einem Zitat des jungen Rupert Murdoch, sondern auch mit einer investigativen, patriotischen Leistung von dessen Vater Keith Murdoch im Ersten Weltkrieg. (Und: Ja, The Australian erscheint bei Murdochs australischem Unternehmen News Limited).
Assanges Selbststilisierung, die er zweifellos betreibt (und schon lange betrieb, woran die FAZ-Medienseite anhand seines Romans "Underground" von 1997 erinnert) wird bereits feuilletonisiert. Zum Beispiel von Lorenz Jäger in der FAZ, der ihm tröstend zuruft, dass, "was immer auch nach seiner Verhaftung mit ihm geschieht", seine Verdienste jedenfalls der Weltöffentlichkeit im Gedächtnis bleiben werden. Der Gedanke, was immer mit Assange geschehen könnte, erinnert Jäger irgendwie wohlig ans 18. Jahrhundert, als es "klandestine Enthüllungsliteratur" gab und "pornographisches Material über die Königin Marie Antoinette" publiziert wurde (und vielleicht beeinflussten ihn auch einfach Berichte, die Assange wiederum mit Guy Fawkes aus dem 16./ 17. Jahrhundert assoziieren).
Dennoch interessant, der FAZ-Artikel, weil Jäger darauf hinweist, dass "MunterMacherMetzner", das Blog des wegen Wikileaks enttarnten FDP-Mannes Helmut Metzner inzwischen "alle Inhalte gelöscht hat" und ironischerweise nurmehr auf den Content der "Achse des Guten" (FAZ: "einer, sagen wir es vorsichtig: publizistischen Einflussagentin der Vereinigten Staaten") verweist.
Ohnehin verkörpert die FDP, eigentlich ja alles andere als eine Volkspartei, die gesamtgesellschaftliche Verwirrung hinsichtlich einer Einordnung von Wikileaks, den Vorwürfen gegen das Netzwerk an sich und denen gegen Assange alleine, gerade sehr schön. Während Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle auf dem "Fünften Nationalen IT-Gipfel" zu Dresden nicht nur die kraftvolle Losung ausgab: "Unsere Marschroute muss sein, die Freiheit des Internets zu bewahren" (bmwi.de), sondern auch mit seinem Wikileaks-Stasi-Vergleich befremdete (oder eher einem USA-Stasi-Vergleich? vgl. SPON), verblüfft der rechtspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Ahrendt, in der FTD sowohl mit Kritik an den USA und deren Versuch, Wikileaks "mundtot zu machen", als auch an privaten Unternehmen, die ihnen dabei helfen.
Wenn jetzt klarer wird, dass kalifornische Konzerne wie etwa Ebay (PayPal) und Amazon, die sich in ihrer Werbung auch zu Pionieren der Informationsfreiheit stilisieren, halt doch bloß Konzerne mit kommerziellen und Standort-Interessen sind, könnte das ein Kollateralnutzen der Sache sein.
Noch rasch zu den nüchternen Fakten: Über das, was dem in London verhafteten Assange drohen könnte, informiert instruktiv (und unter besonderer Berücksichtigung der differenzierten "Verbrechensrubrizierung" des Tatbestands der Vergewaltigung in Schweden) zeit.de.
Faktenmäßig umgekehrt interessant ein Artikel von der eigentlich ja gerade im Juristischen besonders bewanderten Meinungsseite der Süddeutschen ("...überall nutzt Assange die Freiheiten, die demokratische Rechtsstaaten bieten... Für sich selbst will Assange die Regeln dieser Systeme nicht akzeptieren"), der daher Telepolis schon Bescheid stößt:
"Stefan Kornelius hat allerdings 'vergessen', dass Assange nach der Anzeige noch drei Wochen in Schweden geblieben ist und sich einer Anhörung angeboten hat, dass die Klage zunächst zurückgezogen wurde und die Staatsanwältin, die nun den Haftbefehl herausgegeben hat, Assange erst einmal ausreisen ließ. Da scheint bei dem Journalisten der Zorn auf die Prominenz seines Kollegen, der nur in anderen Medien wildert, doch zu irrationalem Umsichschlagen geführt zu haben."
"Sollte Wikileaks die aktuellen Angriffe nicht überleben, werden ähnliche Seiten an deren Stelle treten. So lange, wie dafür ein Bedarf besteht", kommentiert abgeklärt bis binsenhaft die TAZ.
[listbox:title=Artikel des Tages[Assange in Murdochs Australian##... im Gedächtnis der Menschheit (FAZ)##Wikileaks in Brüderles Gipfelrede (SPON)##...von der FDP verteidigt (FTD)##Telepolis vs. Öffentlich-Rechtliche##"Innocence in Danger" im TAZ-Interview]]
Damit rasch noch nach Erfurt, wo ganz ohne digitale Lecks Dokumente um nicht erbrachte, aber bezahlte Dienstleistungen zu einer kriminalpolizeilich-staatsanwaltschaftlichen Durchsuchung beim öffentlich-rechtlichen Kinderkanal sowie zur Verhaftung eines leitenden Mitarbeiters führten. Am ausführlichsten berichtet die Süddeutsche (S. 15), aber nicht frei online. Das tun knapper der Tagesspiegel und (mit verpixeltem Verhaftetenfoto) bild.de.
Altpapierkorb
+++ Neues Material zur ZDF/ "Wetten, dass..."-Sache: Wie der Sender, der ja auch die Kunst der umfangreichen Begleitberichterstattung pflegt, in seinem Boulevardmagazinen "hallo deutschland" vorab durchaus aufgeregt über die Proben zur tragischen Wette berichtete, dokumentiert das FAZ-Fernsehblog. +++ "Die Abschaffung der öffentlich-rechtlichen Sender" fordert, ebenfalls bei Telepolis, Rüdiger Suchsland. Nicht wg. "Wetten, dass...", sondern wegen des Gesamtprogramms. Außerdem wartet er noch auf Auskunft, ob wirklich "50 Prozent aller Rundfunk-Gebühren ...allein auf Zahlung der Rentenbezüge ehemaliger Angestellter" entfallen. +++
+++ Besonders überaltert, Ulf Brychcy und der FTD zufolge: die Leserschaft des Bauer-Verlags (siehe Altpapier vom Freitag), weshalb dieses Familienunternehmen in der Medienkrise besonders leide und heftig reagiere. +++ Gala, das "Bauer-Blatt für Abiturienten", erscheint jedoch bei Gruner + Jahr (TAZ-Kriegsreportage). +++
+++"Die Gesellschaft steht durch das Internet vor völlig neuen Herausforderungen - das gilt auch für sexuellen Missbrauch. ... Und durch das Sprengen der Raum-Zeit-Dimension ist ein missbrauchtes und gefilmtes Kind, das einmal im Netz gestanden hat, dort für immer zu sehen" (Julia von Weiler, Leiterin des dank Stephanie zu Guttenberg prominenten Vereins "Innocence in Danger", im TAZ-Interview). +++
+++ Es wurden wieder Journalistenpreise verliehen. Jetzt: der Reporterpreis. In der SZ veranstaltet Evelyn Roll als "Mitglied der Vorjury in der Sparte Interview" "eine kleine Werkschau von innen". Die FAZ meldet, dass Harald Schmidt, Jury-Mitglied, "Unruhe (aus)löste", als er Heiner Müller zitierte: "Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll.“ +++ Frei online berichten Tagesspiegel und BLZ. +++ Die sich auch dem 25-jährigen Jubiläum der ARD-"Lindenstraße" widmen. Die BLZ mit Schauspielerinterviews ("Wie ist es, in einer TV-Serie aufzuwachsen, Moritz A. Sachs und Rebecca Siemoneit-Barum?"), der Tsp. mit einem mit Produzent und Regisseur Hans W. Geißendörfer ("Wenn wir Annemarie Wendl, unsere Else Kling, früher aus der Serie genommen hätten, wäre sie früher gestorben, da bin ich mir ganz sicher. Das haben uns auch ihre Ärzte gesagt"). +++
+++ Ein Blick in die Programme der Kultursender: rätselhafte Inszenierungen der Nazis im Warschauer Ghetto bei Arte (Tilman P. Gangloff, Tsp.), das "ach so wilde Sexleben der Beatles" auf 3sat (Jenni Zylka, TAZ).+++
+++ "Und wenn die Angst der alten, linken Einheimischen gegen etwas chancenlos ist, dann dies: die Nicht-Angst der neuen, migrierten Deutschen" (Marc Felix Serrao in der Süddeutschen über die gestern erschienene Deutschland-TAZ). +++ Der Journalist und Historiker Friedemann Bedürftig ist tot. "Gestorben ist ein großartiger Autor, Mitglied einer Generation, die verschwindet. Es ist die Generation der absolut Präzisen", so die SZ, für die Bedürftig auch schrieb. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.