Prekariat und Blockwarte

Frische Debatten rund um die Medienpolitik: Auf der Berliner "Medienwoche" reden die üblichen Verdächtigen besonders viel. Aktuellere Themen werden mit härteren Metaphern anderswo besprochen.

Kleine Überraschung gestern auf der Berliner Medienwoche: Im Rahmen ihres keineswegs unumständlichen Grußworts zur Eröffnunung grüßte die Chefin der Berliner Senatskanzlei, Barbara Kisseler, die Teilnehmer eher weniger, sondern redete am Ende gar von einer "Legitimationskrise" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Video).

Die kleine Rede der Staatssekretärin basierte zwar zum Teil auf der jüngsten "Philippika" (Kisseler) des Die Zeit-Feuilletonisten Jens Jessen, enthielt aber auch eigene Beobachtungen. Bildung im Fernsehen bestünde eben nicht aus "noch mehr Häppchenwissen für die nächste Rateshow", sagte Kisseler. So etwas hört man aus dem Umfeld der SPD-Medienpolitik selten.

Nachdem die ehemalige Bundesverfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach freundliche Sätze über die auch künftige Bedeutung des Journalismus auratisch gekrächzt hatte, gelang es Technikern, eine Skype-Verbindung nach Großbritannien herzustellen (siehe unser Foto). So wurde aus London Caroline Thomson zugeschaltet, die am aktuellen BBC-Beispiel das Medienwocheneröffnungs-Motto "Less is more" derart drastisch erläuterte, dass manche BBC-Aficionados aus deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten hörbar schlucken mussten:

 

"Jede fünfte HierarchIn bei der Mutter aller öffentlich-rechtlichen Anstalten soll den Hut nehmen, die Kosten für das Onlineangebot und die Nachrichten sollen in den kommenden fünf Jahren um ein Viertel reduziert werden. Bis 2013 sollen 90 Prozent der Gebühreneinnahmen auch wirklich ins Programm fließen."

So fasst es die TAZ zusammen. Der Satz "We must never forget, that we are spending other peoples' money" hat es dwdl.de besonders angetan. Kann man sich solche Sätze zum Beispiel in Schweden vorstellen, wo das ZDF gerade die Dreharbeiten zu "Inga Lindström - Melodie des Windes" aufnahm?

In Berlin fand sich anschließend unter der Gesprächsleitung des stern.de-Chefredakteurs Frank Thomsen (der, obwohl überhaupt nicht öffentlich-rechtlich, im eigenen Haus dem Trend zum Weniger vorangehen und z.B. die Zahl der Ressorts von acht auf zwei schrumpfen möchte, vgl. meedia.de) eine kleine Elefantenrunde zusammen. Das "Panel war wie üblich etwas zu groß besetzt, um eine lebhafte Diskussion aufkommen zu lassen" (dwdl.de).

Es bemühte sich aber nach dem auf deutschen Medienkongressen bewährten Mehr-ist-mehr-Prinzip erfolgreich, beim Austausch aktueller Ansichten der jeweils vertretenen Unternehmen und/ oder Interessenverbände, keine Ansicht zu denkbaren Themen unerwähnt zu lassen. Dass es keine Legitimationskrise gebe, postulierte RBB-Intendantin Dagmar Reim ebenso wie dass ihr Sender sich nicht als Prekariat der ARD fühle (wie es der frischgebackene Düsseldorfer Medienstaatssekretär Marc Jan Eumann vorher am Rande anderer Gedankengänge formuliert hatte). Damit dennoch ein zitables Sprachbild stehen bleiben konnte, nannte Reim den friedfertig auftretenden Springer-Chefdiplomaten Christoph Keese den "Martin Luther King des Mediensystems".

Ja, es wurde so viel geredet, dass Sascha Lobo, der sich als "Vertreter der digitalen Öffentlichkeit" fühlte, dank relativer Schweigsamkeit sowohl verblüffte als auch erstaunlich gute Figur machte. Weitere Berichte: evangelisch.de, Tagesspiegel und natürlich beim Veranstalter.

[listbox:title=Artikel des Tages[Hilker über den nächsten RStV##TAZ von der Medienwoche##dwdl.de von der Medienwoche]]

Die größeren Debatten um den nächsten statt den letzten Rundfunkänderungsstaatsvertrag allerdings laufen mit härteren Metaphern anderswo. Derzeit zwischen Online und Papier, Dresden und Frankfurt am Main, der FAZ und der Linken. In der FAZ (S. 33, derzeit nicht frei online) schließt sich Michael Hanfeld der Position Heiko Hilkers an!

Hilker, führender Medienpolitiker der Linken, hat bei Carta den neuesten Entwurf zum nächsten Staatsvertrag (PDF) publiziert, der schon Ende September beschlossen werden und das heiße Eisen des Nachfolgebeitrags für die GEZ-Gebühren regeln soll. Zweierlei sei besonders bemerkenswert, kommentiert er: Erstens würden gegenüber dem vorigen Vertragsentwurf "große Unternehmen und die Besitzer von Zweit- und Ferienwohnungen entlastet", Blinde dagegen belastet, zweitens seien "erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken", die der zuständigen Rundfunkkommission der Länder vorlagen, "bewusst übergangen" worden.

Hilker schreibt daher von "abenteuerlichen" "datenschutzrechtlichen Kollateralschäden". Hanfeld weiß so etwas natürlich aufwühlender zu formulieren:

"Die Rundfunkanstalten der ARD, die den Beitrag für das ZDF und das Deutschlandradio mit einziehen, werden zu einer Art Super-Meldebehörde. Sie werden von den Bundesbürgern künftig mehr wissen als das Finanz- oder das Einwohnermeldeamt. (... ...) Sogar Vermieter sind anzeigepflichtig und können zur Auskunft über Mieter gezwungen werden: Der Blockwart feiert fröhliche Wiederauferstehung."

In der Sache stimmen die Frankfurter Allgemeine und die Linke hier weitgehend überein. Vielleicht, ganz vielleicht kann diese ungewöhnliche Koalition ja Zuversicht wecken, dass die medienpolitische Diskussion den üblichen Gesprächskreisen, die erst in Hinterzimmern die Agenda bestimmen und hinterher gern auch gemeinsam auf Medienkongresspodien performen, doch einmal entrissen wird.


Altpapierkorb

+++ "Als wir Menschen die Sprache erwarben, lernten wir nicht nur zu hören, sondern auch zu sprechen. Heute, da wir uns in eine zunehmend digitale Wirklichkeit hineinbegeben, müssen wir nicht nur lernen, Programme zu nutzen, sondern auch, diese zu erstellen. Denn in der hochprogrammierten Landschaft der Zukunft wird man entweder die Software erstellen oder man wird sie sein" (Douglas Rushkoff im SZ-Feuilleton, S. 13). +++

+++ Nur wenige Minuten Hauptprogramm, aber spektakuläres Begleitprogramm mit einem waschechten A- (oder doch eher schon B-?) Promi: Jörg Kachelmann vor Gericht, Oliver Pocher als Doppelgänger und Alice Schwarzer nicht mehr allein als Werbeträgerin, sondern auch als Reporterin der Bild-Zeitung. Siehe bild.de und nachgeschaltete Medien, meedia.de, evangelisch.de... ... +++

+++ Aus der losen Reihe "Aufschlussreiche Unterschiede zwischen Print- und Online-Redaktionen": Peer Schaders Artikel über die Vox-Show "X-Factor" heißt in der gedruckten TAZ "Ein bisschen Stuss muss sein", online dagegen "Vögel mit Fun-Factor". +++

+++ Unterhaltungselektronische Innovationen gibt's in Berlin nicht nur auf der IFA. "Die Situation des Interviews wird hier mit einer Direktheit transportiert, die das Gespräch nicht mehr länger als von außen abgefilmt wirken lässt, sondern quasi, als würde man es als Zuschauer selbst führen", ist die BLZ ganz begeistert von der von Niels bzw. Nils Ruf (Frankfurter Rundschau) bei neuen Interviewfilmchen eingesetzten Technologie der Brillenkamera. +++ Ansonsten bespricht die BLZ den Sat.1-Filmfilm "Sind denn alle Männer Schweine?" (Klaudia Wick: "brachialer Frauenhumor") und noch eine Fernsehsendung, aber nicht die Berliner Medienwoche. +++ Noch mehr Fernsehen ("Rigoletto" im ZDF, Ina Müller in der ARD, die Sat.1-Männerschweine) bietet die FAZ-Medienseite, aber derzeit nicht frei online. +++

+++ Gelingt es der ARD, Jörg Pilawas "hohe Quizshow-Quote (zu) halten", fragt der Tagesspiegel, der ferner den ARD-Biathlon im Blick hat. +++ Bettina Böttingers jüngste Erfolgsgeschichte begann vor zwei Jahren auf einem Weingut. Mit viel Verständnis für die kölsche Medienwirtschaft berichtet der KSTA von der Fernsehproduktionsfirma "Encanto": "Jüngst überraschte 'Übernachtung & Frühstück' mit Lisa Ortgies mit einem Markteinteil von 9,2 Prozent Marktanteile..." +++

+++ Der Pay-TV-Plattform Sky will "20 bis 30 Projekte bis Anfang 2011" lostreten, zum Beispiel dreidimensionale Golfturniere übertragen (Süddeutsche). Ferner freut sich das Blatt über
den überraschenden Erfolg der unabhängigen italienischen Tageszeitung "Il Fatto Quotidiano". +++

+++ "Zum einjährigen Nude-Bestehen wurde angemessen in der Berliner Szenebar Tausend gefeiert, vis-à-vis fast vom Grill Royal, wo sich in Berlins Mitte wichtige Menschen zum Essen treffen und man sehr selten auch eine normale sehr schöne Frau unter 30 trifft. So eine Frau wäre dann 'Nude Paper'", berichtet die Süddeutsche ferner kennerhaft oder sogar kennerinnenhaft von Berliner Medienfeierlichkeiten. +++


Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.