Joan Baez singt mit ihrem Publikum "We Shall Overcome". Mehr friedliebende Lagerfeuerromantik geht nicht. Der Vorgänger dieses Songs stammt von Charles Albert Tindley. Der Methodisten-Prediger aus Philadelphia gilt als "Vater der Gospelmusik". Als er den Song 1901 schreib, hatte er ein altes katholisches Kirchenlied und Spiritual im Kopf – und einen Bibelvers aus dem Galaterbrief (6,9): "Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen." Tindleys Vater war Sklave; er wusste also gut, welche Hoffnung die Afroamerikaner im rassistischen Amerika brauchten.
"Die Welt ist ein großes Schlachtfeld", textete er, "die Waffen sind aufgestellt. Wenn ich in meinem Herzen nicht müde werde, werde ich es überwinden."
"I will overcome": Das spiegelt einerseits die christliche Hoffnung darauf, das irdische Jammertal einst zu überwinden; andererseits macht es Mut, nicht müde zu werden angesichts all des Unrechts auf der Welt.
Mitte der 1940er Jahre entdeckte eine weiße Volkskundlerin das Lied; sie spielte es dem linken Folksänger Pete Seeger vor, der mit anderen einige Strophen dazu dichtete. Auch ersetzte er die Refrainzeile: Aus dem "I will" machte er kurzerhand "we shall", denn das, so meinte er, lasse sich besser singen: "We Shall Overcome" in der heutigen Version war entstanden: Ein Protestsong für viele Gelegenheiten. "Wir werden Hand in Hand gehen eines Tages", "wir sind nicht allein", "wir werden in Frieden leben", "wir werden frei sein" und schließlich: "Schwarz und Weiß werden zusammenfinden"! Diese Hoffnungen werden gebündelt im Refrain des Songs: "Tief in meinem Herzen glaube ich, dass wir darüber hinwegkommen". Und einst – werden wir auch in Frieden leben: "We shall live in peace".
Von 1950 an nahmen Musiker und Musikerinnen das Lied auch auf Schallplatte auf. Einen Bekanntheitsschub erfuhr es 1963, als Protestsängerin Joan Baez es vor 100.000 Menschen auf dem "Marsch auf Washington" sang, einem Massenprotest der Bürgerrechtsbewegung, angeführt von Baptistenprediger Martin Luther King. Die Version von Joan Baez setzte sich durch; sie sang sie 1969 auch auf dem berühmten Woodstock-Festival. Deshalb wird We Shall Overcome bis heute oft mit Joan Baez in Verbindung gebracht.
Das passt gut. Denn keine andere Musikerin verkörpert den Kampf für Frieden und Gerechtigkeit so wie sie. Ihre pazifistische Haltung wurde geprägt durch ihr Elternhaus. Ihr Großvater, ein methodistischer Pfarrer, war aus Mexiko nach New York ausgewandert. Als Joan wenige Jahre alt war, traten ihre Eltern zum Quäkertum über. Die Verbindung von Spiritualität, Gerechtigkeitssinn und praktischer Friedensliebe prägte sich ihr ein. Joan spielte Folk-Songs und setzte sich für die Ziele des "Civil Rights Movement" ein: Abschaffung der Rassentrennung, soziale Gerechtigkeit, Ende des Vietnamkrieges. Baez war sehr hübsch und sang mit eindringlicher Sopranstimme – auch das bewegte die Menschen. Sie wurde zum Folk-Superstar für alle, die sich für Frieden und Freiheit einsetzen.
In Deutschland erlebte "We Shall Overcome" einen Siegeszug jenseits der Hitparaden. Auf den Demos der Friedensbewegung, bei zivilem Ungehorsam, auf Protestmärschen: Überall sangen und singen Menschen das Lied. Auch in christlichen Kreisen wurde es beliebt. Mittlerweile hat es sogar Aufnahme in einige offizielle Kirchengesangbücher gefunden. Dass das Leid der Welt überwunden wird, gehört ja auch zur guten Botschaft des Evangeliums.